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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Welt hatte sich nicht in ihre Bestandteile aufgelöst. Sie war selbst für einen Mann noch bewohnbar, der, ohne einen Augenblick zu zögern, alle Schätze Afrikas für ein Rückfahrbillett nach Breslau eingetauscht hätte.
    Der 8. Januar 1938, auf immer ins Gedächtnis eingebrannt, schluckte alles Gewesene, Trauer und Angst, Melancholie, Verzweiflung und die Not der Seele. Gab es überhaupt eine Vergangenheit? Waren Gegenwart und Zukunft nicht nur leere Worte, lediglich Begriffe und Definitionen, die eifernde Lehrer brauchten, um der Grammatik ihren Stellenwert zu sichern? »Redlich, wenn du nicht lernst, das Plusquamperfekt richtig zu gebrauchen, dann brauchst du gar nicht erst mit Latein anzufangen. Latein ist eine Sprache für Ästheten.«
    »Und für tote Römer«, raunte der kleine Katschinsky und holte sich einen Eintrag ins Klassenbuch.
    Walter lächelte. Eine Seligkeit lang war er wieder Sextaner - mit Tinte an den Fingern und einem Schmalzbrot für die Pause. Noch gab es Schmalz genug. Der Krieg war erst vier Wochen alt und die mütterliche Speisekammer gut gefüllt. Oberstudienrat Hermann Gladisch war zu alt und zu kurzsichtig, um für den Kaiser zu sterben. Er musste seinem Vaterland weiter als Lehrer für Latein und Griechisch an der Fürstenschule zu Pless dienen. Wieder einmal hatte er vergessen, das Eigelb aus seinem Bart zu entfernen. Der Schüler Redlich, der nach dem Abitur so schnell die Leiter hinaufsteigen sollte wie keiner seiner Mitschüler und der dann so tief stürzen würde wie nur Siegfried Sedlacek, der andere jüdische Junge in der Klasse, sah das Eigelb und fasste sich an sein Kinn. Genau wie damals grinste der kleine Flegel. »Ein schöner Ästhet!«, flüsterte er in den Rücken des Hintermanns. Ehe auch er einen Eintrag ins Klassenbuch bekam, schloss Walter die Augen.
    Als er zehn Minuten später wach wurde, hörte und sah er, dass der Zug wesentlich schneller fuhr als zuvor. Er empfand das Tempo als Befreiung. Es wirkte wie ein Kümmelschnaps nach Karpfen in Biersoße. »Redlichs Kümmel ist ein Stück vom Himmel«, murmelte Walter. Er mochte nicht glauben, was mit ihm geschah. Der Spruch, an den er jahrelang nicht mehr gedacht hatte, stammte von seinem Großvater. In Sohrau kannte ihn jedes Kind, selbst der Sohn vom Schmied, der sich nicht merken konnte, dass Kattowitz eine Stadt und nicht der Name des Ortspolizisten war. Salo Redlich brannte einen Kümmelschnaps, der besser als alles war, was aus der Apotheke stammte. Das wusste jeder Mann, der etwas vom guten Leben verstand. Walter zuckte zusammen. Er war entsetzt, wie wenig sich ein Gedächtnis zügeln ließ. Nur schnell weg von dem Land der Erinnerungen, das ihm Vaterland war. »Gewesen war«, korrigierte er. Die beiden Worte blieben in seiner Kehle stecken, und doch machten sie Mut. Als Walter nämlich nach der Schere griff, um die Nabelschnur zu zerschneiden, die ihn an Deutschland band, waren seine Hände ruhig und warm. Er wurde noch kühner. Weil ihm niemand widersprach und der Teufel ihn nicht verhöhnte, wähnte er gar, er wäre klüger als andere Emigranten und hätte sich in sein Schicksal besser gefügt als sie. Zwischen zwei Dörfern, an denen der Zug vorbeiraste wie die Feuer speienden Monster aus dem Märchen, sagte aber die Mutter: »Du wirst nie lernen, dich zu fügen, mein Sohn, du nicht.« In dem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, den er zuvor in einer solchen Intensität nur bei hohem Fieber erlebt hatte oder wenn es in seiner Studentenverbindung zu heftig zugegangen war, löste sich die Angst in sehr kleine, angenehm überschaubare Teile auf. Die winzigen Einheiten ließen sich jederzeit neutralisieren. Sie verschwanden auf Wunsch, gehorchten jedem Befehl, und solange sie da waren, beunruhigten sie nicht. Das Leben hatte keinen festen Boden mehr, es forderte keine Entscheidungen und schon gar nicht Mut. In der schönen neuen, funktionell eingerichteten Welt gab es auch keinen Gott. Wer keine Angst hatte, brauchte ja keinen Beistand.
    Auch der Körper wehrte sich nicht mehr. Von den vibrierenden Bewegungen des Zugs ruhig gestellt, ließ sich Walter weismachen, am achten Januartag des Jahres 1938 wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Irgendwann kam ihm sogar der Gedanke, beim Übertreten der deutschen Grenze würden sich alle seine Sorgen auf wundersame Art verflüchtigen. Eine Weile genoss er seine Illusionen und die Plastizität seiner Wunschträume. Um zu prüfen, wie schnell er der Realität

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