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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Selbstverständlichkeit nach einer herrenlosen Zeitung gegriffen hätte wie nach seinem Taschentuch, erschien ihm schon nicht mehr Teil seiner selbst. Deprimiert fixierte er erst seine Hände, die in Abständen zu zittern begannen wie die der alten Wanda in Sohrau, und dann die Bank gegenüber seinem Sitz. Das helle Holz war gepflegt und von guter Qualität, der Boden frisch gewachst, kein Zugfenster war schmutzig, jeder Aschenbecher im Abteil geleert. Walter hatte sich die dritte Klasse anders vorgestellt, unbequemer, ärmlich, überfüllt, ordinär und laut. So ähnlich wie in den Zeichnungen Daumiers, für die sein Kunstlehrer in der Oberprima schwärmte. Die Vorurteile aus der Zeit der Fülle machten ihn verlegen. Es genierte ihn sehr, mit welcher Unbefangenheit er, der zur Bescheidenheit erzogen worden war, sich an die Lebensgewohnheiten der Wohlhabenden gehalten und Jettel in den Dingen des Alltags widerspruchslos nachgegeben hatte. Auch bei kurzen Strecken hatte sie auf der zweiten Klasse bestanden, selbst beim Abschied von Leobschütz. Damals hatte Walter noch Hemmungen gehabt, seine Frau darauf hinzuweisen, dass die Würfel gefallen waren und es ein für alle Mal mit Wohlstand und Bequemlichkeit vorbei war. »Und dem verdammten Klassenstolz«, sagte er. Seine Stimme war laut und fest.
    Eine quäkende Kinderstimme, störend durchdringend, aber beruhigend vertraut, holte den beschämten Grübler zurück in die Gegenwart. Im Gang vor dem Abteil stand die junge Frau, die Walter am Bahnsteig aufgefallen war. Das Baby, die Mütze mit dem Spitzenrand immer noch verrutscht, weinte und sah aus wie ein angezogenes, permanent niesendes Ferkel in einem von Reginas Bilderbüchern. Das Kind hielt seine Hand ans Ohr. Der Reisende im Abteil erinnerte sich, was das bei Babys bedeutet, und grüßte verlegen. Er nickte wie einer, der nicht sicher ist, ob er grüßen soll oder ob er den Fremden mit seiner Aufmerksamkeit belästigen wird. Es missbehagte Walter, dass er Mutter und Kind bereits als ein Stück seiner Vergangenheit empfand und dass sich ihm ausgerechnet die letzten Minuten in Breslau als eine sanfte Erinnerung darboten. Nichts hatte sich seit der Szene am Bahnhof verändert. Die Mutter versuchte immer noch vergeblich, den zahnenden Säugling in den Schlaf zu wiegen. Sie war genauso bleich und erschöpft wie vor einer halben Stunde. Walter beneidete sie trotzdem. Mochte ihr Kind Schmerzen haben, weinen und am Leben leiden, es war in Sicherheit. Im eigenen Land. Für immer. Bestimmt hatte es einen Taufschein und gewiss auch »arische Großeltern«, die es als einen erbgesunden Deutschen auswiesen.
    Vielleicht hatten Jettel und sein Vater doch recht gehabt. Ein Mann mit Verantwortungsbewusstsein durfte Frau und Kind nicht zu Hause zurücklassen, wenn sie dort nicht mehr sicher waren. Wieso aber wagte es dieser Ehemann und Vater noch, Deutschland als sein Zuhause zu bezeichnen? Wozu brauchte er überhaupt ein Vaterland, wofür eine Muttersprache? Schon in Genua war die keinen Pfifferling mehr wert. Die Konfrontation mit dem Mann, der er gewesen war, entsprach Walters Sinn für Proportionen. Methodisch blätterte er in der Chronik seines Lebens - von der Aufnahme ins Gymnasium bis zum letzten Satz seiner Doktorarbeit, die Niederlassung in Leobschütz und dem ersten gewonnenen Prozess. Gre-schek gegen Krause. »Sie sind eine Kanone, Herr Doktor«, strahlte Greschek und klopfte seinem Anwalt auf die Schulter. Sie standen vor dem Gerichtsgebäude. »Dem Krause hat noch keiner die Zähne gezeigt, bis Sie nach Leobschütz gekommen sind.«
    »Wir zeigen ihm ein ganzes Gebiss.«
    Walters Stimmung besserte sich ein wenig. Es half, zurückzublicken, auch wenn die altrömische Devise »ohne Zorn und Eifer« sich nicht mehr als opportun anbot. Selbst als er die Bilanz seiner allerjüngsten Vergangenheit zog, war er nicht unzufrieden. Auf dem Bahnhof hatte er sich die Enttäuschung, dass Greschek nicht gekommen war, nicht anmerken lassen. Durch keine Bewegung, mit keinem Wort. Jettel hatte nur ein paar Tränen geweint, Regina den Vater nicht abfahren gesehen. Wie ein Soldat war dieser Vater in die Schlacht gezogen. Keinen Schrei hatte er getan, den Himmel nicht verflucht, er war bereit gewesen, schweigend zu akzeptieren, wozu ihn das Schicksal aburteilte. Der deutsche Patriot, der gedacht hatte, er könnte Deutschland und die Seinen nicht verlassen, ohne dass sein Lebenssaft auf der Stelle versiegte, blutete aus keiner Wunde. Die

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