Nur die Liebe bleibt
Wagen und Fernweh immer wieder gewünscht, in die Welt zu ziehen, die als die weite und schöne besungen wurde? Hinaus aus jener Enge, die von der Jugend geschmäht wird, weil die Jungen die Gewohnheit, die einem Menschen Halt und Stärke gibt, mit Einschränkung verwechseln, die ihn gängelt.
»Die meisten Wünsche im Leben werden erfüllt, aber immer um Jahre zu spät«, sagte die Mutter.
»Woher weißt du?«, fragte Liesel.
»Werde du mal so alt wie ich, mein Fräulein, dann wirst du das nicht mehr fragen.«
Es schmerzte nicht, an die Mutter zu denken. Ihr Sohn machte sich endgültig klar, dass Regina Redlich, Hotelbesitzersgattin aus Sohrau in Oberschlesien, allerorten als tüchtig gelobt und bewundert und vom Koch bis zum jüngsten Stubenmädchen wohl gelitten, in einer guten Zeit gelebt hatte. Und zur rechten Zeit gestorben war. Im Jahr 1926. Sieben Jahre vor Hitler. Erde von ihrem Grab, bei seinem letzten Besuch in Sohrau mitgenommen, lag ganz unten im großen Koffer. In einem weißen Stoffsäckchen, das Liesel genäht und Jettel beschriftet hatte.
Außer ihm saß niemand im Abteil. Es roch, für einen starken Raucher durchaus angenehm, nach einem schweren, süßen Pfeifentabak und nach scharf gebranntem Kaffee. Auf dem kleinen Tisch am Fenster lag aufgeschlagen, aber ganz offensichtlich kaum durchgeblättert die »Berliner Illustrirte Zeitung«. Die Erinnerung stimmte Walter einen Augenblick heiter. Er hatte das Blatt immer für Regina gekauft. Schon als Dreijährige hatte sich seine Tochter an E. O. Plauens Geschichten von »Vater und Sohn« nicht satt sehen können. Zu ihrem vierten Geburtstag war dann eine Laterna magica hinzugekommen, um die Bilder an die Wand zu projizieren.
»Wenn ich lesen kann, dann kaufe ich jeden Tag >Vater und Sohn<«, hatte sich Regina ausgemalt.
Walter kniff seine Augen zu, um sie trocken zu halten. Ohne sich Gedanken über seine Absicht zu machen, streckte er seine Hand nach der Zeitung auf dem Tisch aus, doch mitten in der Bewegung hielt er erschrocken inne. Wie ein Eierdieb, der Angst hat, wenn er den Hofhund nur bellen hört, zuckte er zusammen. Was, wenn ausgerechnet in diesem Moment der Schaffner erscheinen würde? Wenn der merkte, dass er es mit einem Juden zu tun hatte und noch dazu mit einem, der dabei war, auszuwandern, würde er ihn umgehend des Diebstahls oder zumindest der Fundunterschlagung bezichtigen. Und wie sollte ein ehemaliger Rechtsanwalt und Notar, dem man das Recht abgesprochen hatte, seinen Beruf auszuüben, einem ehrenhaften deutschen Beamten glaubhaft klarmachen, dass eine zweifelsfrei niemandem gehörende Zeitung nach herrschender Meinung kein abgabenpflichtiger Fundgegenstand war?
Eine solche konfuse, abstruse Überlegung war im Jahr 1938 absolut nicht der Beweis einer krankhaften Phantasie. Einem Freund von Heini Wolf war es auf seinem Weg ins Exil nach Prag wegen einer solchen Lappalie übel ergangen. Ein herrenloser Apfel in einer braunen Papiertüte hätte den Mann um ein Haar in ein bayerisches Gefängnis gebracht. Der Schaffner, der ihn beim Wühlen in der Tüte beobachtet hatte, hatte zunächst nichts gesagt. An der Grenze aber war der arme Teufel von zwei Zollbeamten aus dem Zug herausgeholt und so lange verhört und durchsucht worden, bis er das zugegeben hatte, was die Obrigkeit bei Reisenden nach Prag, die fast ausnahmslos jüdisch waren, ein Vergehen an deutschem Eigentum nannte. Sein Gepäck war ohne ihn weitergereist. Zwar durfte der Unglückliche nach Zahlung einer erheblichen Strafe den darauf folgenden Zug in die Tschechei nehmen, doch seine Habe sah er nie wieder.
Heini Wolf hatte geschworen, ein gemeinsamer Bekannter, der es noch wagte, zwischen Breslau und Prag hin und her zu pendeln, hätte sich »mit tausend Eiden« für die Wahrheit der Geschichte verbürgt, und doch hatte Walter sie als »Emigrantenlatein« abgetan. Ziemlich ironisch und recht selbstbewusst. Nun hatte ihn die Panik der Rechtlosen eingeholt. Er gab sich alle Mühe, die noch keinen Meter von ihm entfernt liegende Illustrierte zu übersehen, er stellte sich sogar vor, sie wäre eigens als Köder ausgelegt worden, um seine Ehrlichkeit auf die Probe zu stellen. Weil er sich gegen seine Phantasie nicht zu wehren wusste und sie mit immer schärferen Krallen nach ihm griff, fühlte er sich beschmutzt und an den Pranger gestellt. Ihm wurde übel. Er presste seine Hände gegen den Magen. Die Zeit, in der er in einem leeren Eisenbahnabteil mit der gleichen
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