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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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eigenen Vaterland. Ungefähr zehn Minuten bewegte sich die Schlange um keinen Zentimeter. Die Kindergesichter waren nicht mehr vom Schlaf gerötet, sondern grün und spitz. Der pickelige Polizist machte den Eindruck, als wäre er in eine Statue verwandelt worden, doch kehrte er mit der Kraft der neuen Auserwählten ins Leben zurück. Er nannte eine alte Frau eine Schlampe und ein zehnjähriges Mädchen einen Judenbastard. Das Kind hatte sich die Hände warm reiben wollen und bekam von der Mutter einen Knuff in den Rücken. Es gab, nun waren sie aufgereiht und also zu zählen, vier Polizeihunde; alle waren heiser geworden und bellten nur noch gelegentlich. »Dalli«, kreischte der Polizist. Er wiederholte das Wort, das einige beim ersten Mal überhaupt nicht verstanden hatten, mehrere Male, jedes Mal wütender. Die Beladenen, die lautlos um den Segen beteten, in das Paradies Österreich einreisen zu dürfen, wurden auf die zwei Zollhäuschen verteilt, ein Greis ermahnt, er solle sich in Acht nehmen, nicht ein zweites Mal auf deutschem Boden zu stolpern.
    Heini Wolf hatte von mehrstündigen Grenzaufenthalten und entsprechend demütigenden Erfahrungen der Emigranten berichtet, doch bereits nach einer knappen halben Stunde waren Greschek und Walter die Einzigen, die noch abgefertigt werden mussten. Sie wurden in einen Raum mit einem beschlagenen Fenster befohlen. Ein schwarz gerahmtes Hitlerbild hing in der Ecke der Mittelwand, daneben war ein aus rötlichem Holz geschnitztes Kreuz. Der helle Fleck neben der Landkarte des Deutschen Reiches auf der gegenüberliegenden Wand war letzte Erinnerung an ein Bild vom bayerischen König Ludwig III. Der Raum war seit 1918 nicht mehr gestrichen worden.
    Ein kleiner untersetzter Mann mit grauhaarigem Stoppelhaar, der trotz des Größenunterschieds Greschek ein wenig ähnlich sah, saß hinter einem abgenutzten Schreibtisch. Seiner war der einzige Stuhl in der düsteren Amtsstube. Zu seiner Linken stand ein halb volles Glas Wasser, daneben lagen eine Schachtel mit Pillen und eine Brille mit auffallend dicken Gläsern. Der Beamte mit dem gelblichen Teint eines Leberkranken sah aus, als hätte er das Pensionsalter schon vor Jahren erreicht. Die vielen Papiere zu seiner Rechten waren akkurat aufeinandergestapelt. In Abständen entnahm er dem Berg ein Dokument und stöhnte. Er stempelte es ab, ohne es zu lesen, wobei er den Stempel vor jedem Arbeitsgang anhauchte und fest in das Farbkissen drückte. Dieser mechanische Vorgang hatte augenscheinlich eine einschläfernde Wirkung, denn er gähnte in immer kürzer werdenden Abständen. Seine Augen befreite er mit den Armen von ihren Tränen, abwechselnd mit dem linken und dem rechten Ärmel. Erst als er den Stempel und das zugeklappte Kissen zu einem Brieföffner und einer Büroschere gelegt hatte, schaute der Diensttuende hoch.
    Es gab kaum einen Zweifel, dass er sämtliche Reisende abgefertigt und sich allein im Raum gewähnt hatte. Walter und Greschek hatte er noch nicht einmal kommen gehört. Der Mann presste einen Laut durch die Zähne, der Überraschung signalisierte. Die nächtlichen Bittsteller starrte er mit dem indignierten Ausdruck eines Schwerbeschäftigten an, der rücksichtslos aus seiner Arbeit herausgerissen wird. Die beiden Proviantkörbe wurden mit je einem Stirnrunzeln bedacht. Ächzend machte er das Stempelkissen wieder auf, wobei er ein kurzes, für Menschen aus Oberschlesien absolut unverständliches Wort murmelte. Dem Gesichtsausdruck gemäß mutmaßte Walter eine Verwünschung. Der Missgelaunte ließ sich die Personalpapiere zeigen, danach die Fahrkarten. Nach einer Weile fragte er, obgleich er gerade das gelesen haben musste, nach dem letzten Wohnsitz. »Innegehabtem, hab’ ich gesagt!«, ermahnte er.
    »Breslau«, antwortete Walter.
    »Leobschütz«, sagte Greschek widerwillig. Er schob seinen Bauch nach vorn.
    »Sieh mal einer an. Hier steht aber, dass ihr beide in Leobschütz gewohnt habt. Ihr müsst schon früher aufstehen, wenn ihr mich für dumm verkaufen wollt.«
    Am meisten machte Walter die Duzform unsicher. Ob das »ihr« in Süddeutschland eine angedeutete Freundlichkeit oder aus dem Mund eines Beamten eine verstärkte Form der Bedrohung Abhängiger war? »Ich habe die letzten sechs Monate in Breslau bei meiner Schwiegermutter gewohnt. Davor war ich in Leobschütz gemeldet«, erläuterte er. Das Sprechen fiel ihm schwer. Er kam sich vor wie die Polizeihunde, die sich heiser gebellt hatten.
    »Und jetzt

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