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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Schwarzbrotschnitte attackierte, sogar zwei weitere Stühle. Der eine war leer, auf dem zweiten lagen ein moosgrüner Hut und eine Aktentasche. Walter erkannte den Hut noch vor der Aktentasche. Schon als Junge war er weiß und nicht rot geworden, wenn er sich schämte.
    »Ist Ihnen schlecht?«, fragte Greschek beim Einsteigen in den Zug. »Sie sind ja schneeweiß im Gesicht.«
    »Wo soll ich denn sonst schneeweiß sein, wenn nicht im Gesicht? Mir ist nicht schlecht, Greschek. Mir ist kotzübel. Haben Sie nicht die Aktentasche und den Hut gesehen?« »Sie müssen aufhören, sich Gedanken zu machen, die Sie nichts angehen, Herr Doktor. Sonst stehen Sie das alles nicht durch. Es ist keine Sünde, zuerst an den eigenen Kopf zu denken. Es ist Ihre Pflicht. Sie haben Familie. Fragen Sie Ihren Pfarrer.«
    »Ach, Greschek, wenn ich bloß Ihren Kopf hätte, da wäre mir wohler. Meiner taugt nur zu den Dingen, die mir nichts mehr nützen. Beispielsweise um Ihnen zu erklären, dass Juden keinen Pfarrer haben.«
    Als Walter das sagte und dabei an den katholischen Pfarrer in Leobschütz dachte, der im Schutz der Dunkelheit zu ihm gekommen war, um sich von ihm zu verabschieden, glaubte er zu weinen. Seine Augen waren aber trocken. Die Polizeihunde wurden hinter das Haus geführt. In der weißlichen Beleuchtung sahen sie aus wie weiße Lämmer. Der Zug fuhr an. Die Fenster wurden hochgezogen, die an der Grenze grell erleuchteten Gänge abgedunkelt. Das Leben bewegte sich wieder.
    Die Glieder wurden wieder warm und auch der Atem. Die »Berliner Illustrirte Zeitung« lag immer noch zusammengefaltet auf dem kleinen Tisch. Auf Seite zwei wurde über das nationalsozialistische Erziehungsideal »Glaube und Schönheit« referiert. Illustriert war der Beitrag mit einem Bild von fahnenschwenkenden Schuljungen im Stahlhelm, die durch Chemnitz marschierten. »Heute meint es der liebe Gott besonders gut mit uns«, sagte Walter. »Was ich doch alles versäumt hätte, wenn uns einer die Zeitung geklaut hätte.«
    Aus der Innentasche seiner Jacke holte er einen silbernen Reisebecher, ein Geschenk von Ina zu seinem einunddreißigsten Geburtstag. Der Becher, in einem Etui aus hellem Kalbsleder, bestand aus vier Einzelteilen, die sich nach Gebrauch platzsparend zusammenschieben ließen. Das praktische Trinkgefäß, ein Erbstück, stammte aus der Zeit, als vorwiegend die besitzende Klasse zu reisen beliebte. Walter füllte den Becher, der mehr in der Welt herumgekommen war als sein gegenwärtiger Besitzer, mit Inas Weinbrand. Abwechselnd tranken Greschek und er einander zu. Sie genossen die Erlösung wie Menschen, die in letzter Minute aus Bergnot gerettet werden. »Es war«, schrieb Walter eine Woche später an seinen Vater, »eine Pointe, die gut zum Enkelsohn eines Destillateurs passt, dass mein letztes Wort auf vaterländischem Boden Prost war.«
    Von Österreich sah er nur die Lichter in den Bahnhöfen. Wenn der Zug hielt, hörte er Rufe und Gesprächsfetzen, die ihn auf eine sehr angenehme Art willenlos machten. Er wähnte, die Laute in dem menschenfreundlichen Land zwischen Wachen und Schlafen wären die akustische Untermalung eines Traums, in dem die Wolken zu einem Farbbrei zerrannen und es weder einen Boden noch Mauern gab. Zu den Versäumnissen auf dem Weg in sein neues Leben würde Walter jedoch noch monatelang den Umstand beklagen, dass er selbst den viertelstündigen Aufenthalt in Wörgl verschlief. Dort hatte er einen großen Coup geplant. Bereits beim Studium des Fahrplans in Breslau hatte er sich vorgenommen, in Wörgl ein Päckchen Dames-Zigaretten zu kaufen und sie Jettel feierlich zu überreichen, wenn er sie in Mombasa vom Schiff abholte.
    Jettel rauchte höchstens drei Mal im Jahr, immer nur in Gesellschaft und wenn sie in Hochstimmung war. Für die schlanken österreichischen Dames-Zigaretten mit dem langen Mundstück schwärmte sie. »Das gibt einer Frau einen richtigen Hautgout«, hatte sie ausgerechnet den Geburtstagsgästen von Professor Wohlmann in Ratibor erklärt. Der Gastgeber, der in der Fachwelt für seine Forschungen über die Entwicklung der Volkssprache seit der Aufklärung bekannt war, verdoppelte danach das Tempo seiner Komplimente für Jettel, doch der Klatsch startete seine Runde, ehe sie und Walter den Zug nach Leob-schütz erreichten.
    »Jettel, um Himmels willen nimm in Zukunft keine Fremdwörter in deinen zarten Mund. Hautgout ist die Bezeichnung für einen ziemlich verstunkenen Rehbraten.«
    »Als ob du

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