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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Greschek.
    »Keine Ahnung. Vielleicht gegen Angst. Oder Heimweh und Wut. Oder wenigstens gegen Bauchschmerzen. Ich hab’ das Gefühl, mein Kopf ist aus Gummi. Geht denn der Tag nie zu Ende?«
    »Er hat ja eben erst begonnen.«
    Um ein Uhr fünfundzwanzig hielt der Zug. Weil er erst zehn Minuten später an der deutsch-österreichischen Grenze fällig war, nahmen die meisten Fahrgäste an, es handele sich, wie schon vielfach zuvor, um einen Halt auf freier Strecke. Ein paar Sekunden lang war kein Laut zu hören, in der mondlosen Nacht weder der Himmel noch die Erde zu sehen, keine Menschen und auch nicht die
    Gebäude vom Zoll. Dann bellten Hunde, und gleichzeitig gingen Lichter an - grell und bedrohlich für die, die Geiseln ihrer Ängste waren. In den Gängen der Waggons und auch im Freien erschallten Rufe und Kommandos. Eine Stimme, ursprünglich wohl liebenswürdig bayerisch eingefärbt, nun preußisch stramm, befahl: »Alle Reisenden haben den Zug auf der Stelle zu verlassen und vor dem Waggon Aufstellung zu nehmen. Pässe und Reiseunterlagen sowie sämtliche Gepäckstücke sind mitzuführen. Zuwiderhandlungen werden sofortigst geahndet.«
    »Es gibt keine Steigerung von sofort«, murmelte Walter. »Wenn du nicht beizeiten lernst, dich auf das Wesentliche zu konzentrieren, musst du dir eine reiche Frau suchen, die dich ernährt«, schimpfte seine Mutter.
    Jettel war keine reiche Frau, sie konnte noch keine Fliege ernähren. Sie war das mittlere Kind eines ursprünglich wohlhabenden Tuchhändlers, der seine Frau und die drei Töchter so verwöhnt hatte, dass er ihnen bei seinem frühen Tod nur Schulden hinterlassen konnte. Jettels Aussteuer hatte aus wunderbarer Bettwäsche, dem Tafelsilber ihrer Großmutter, ihrem kapriziösen Charme und einer Riesenportion Chuzpe bestanden. Weshalb in drei Teufels Namen hatte sie sich ausgerechnet an Walters letztem Tag in Breslau die sündhaft teure Kappe kaufen müssen? Und wozu die albernen weißen Gamaschenhosen für Regina? »Wir schaffen es, Jettel«, flüsterte Walter. Verlegen schaute er Greschek an.
    »Vergessen Sie Frau Inas Korb nicht«, mahnte der Taktvolle, »die Henker saufen uns sonst unseren ganzen Schnaps weg.«
    »Wenn’s nur das ist, brauchen wir für den Rest der Reise keinen Tropfen mehr.«
    Auf einen einzigen Blick ließ sich an den verschlossenen Gesichtern und unsicheren Bewegungen der Wartenden erkennen, dass zu Beginn des Jahres 1938 fast ausschließlich Emigranten in Richtung Süden unterwegs waren. Ein junger Polizist, noch von Pubertätspickeln markiert, dirigierte fuchtelnd die eingeschüchterten Wartenden von den Waggons zu zwei niedrigen Zollhäusern. Von deren flachen Dächern hingen lange Eiszapfen, die nachts wie durchsichtige Messer wirkten. Wie scharf mochten die Klingen sein? Die Lokomotive schnaufte noch. Als dürfte sie weiter, wann immer es ihr beliebte! Gemessen am langen Zug, war die Schlange kurz. Es gab viel mehr Männer als Frauen und nur einige Kinder. Sie alle, obgleich aus dem Schlaf gerissen und frierend, warteten schweigend. Zwei Säuglinge verschliefen in den Armen ihrer Mütter den Rauswurf aus ihrer Heimat.
    Walter kam der Gedanke, dass sich seit dem Auszug der Kinder Israels aus Ägypten nicht viel verändert hatte. Er und Greschek waren die Letzten in der Reihe; sie konnten nicht genau ausmachen, was am Kopf der Schlange geschah. Jedoch hörten sie Befehle und regelmäßig auch Flüche, die sie allerdings nur nach der Tonlage deuten konnten - die Entfernung zwischen Bayern und Schlesien ließ sich schon nicht mehr nach Kilometern bemessen. Die Stimmen der Herrschenden klangen meistens gedämpfter als befürchtet - im Gegensatz zu dem heftigen Gebell, das entweder auf eine größere Anzahl von Hunden oder auf einen besonders aktiven deutschen Polizeihund hindeutete. Zum ersten Mal seit Breslau war Walter froh, dass Regina nicht bei ihm war. Seine Tochter hatte eine Urangst vor Hunden. Sie schrie gellend und klammerte sich jammernd an ihre Eltern, sobald auch nur ein Rehpinscher auftauchte. Seltsam, dass das ihren Vater immer so verärgert hatte. Was spielte es denn noch für eine Rolle, ob ein Mensch tapfer oder nur ein ganz gewöhnlicher Angsthase war? Kolumbus hatte noch Mut gebraucht. Seit seiner Abfahrt aus Genua hatten sich die Wertmaßstäbe jedoch verschoben. Es kam nur noch auf einen einwandfreien Stammbaum und die richtige Konfession an. Und auf die Erkenntnis, dass man überall auf der Welt sicherer war als im

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