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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Redlich, Absolvent eines humanistischen Gymnasiums, seit seinem zehnten Lebensjahr stolz auf seine deutsche Kultur und seine deutsche Erziehung, hatte sein Lebtag keinen jüdischen Ausdruck in
    Gegenwart von Nichtjuden gebraucht. »Nebbich« war nicht für die Öffentlichkeit gedacht und schon gar nicht mehr im Nazideutschland. Das gepfefferte, pfiffige, geniale und unverzichtbare Wort aus dem Jiddischen existierte für Walter lediglich, wenn er mit seinen jüdischen Freunden sprach, mit Verwandten und Vertrauten und Eingeweihten. »Nebbich« war ein Lebensbegleiter gewesen, von der Mutter oft gebraucht, ebenso von Vater und Schwester, von Freunden und den Kommilitonen und auffallend oft in den letzten Jahren, da der Strick um den Hals immer sichtbarer wurde. Das variable Wort eignete sich für jede Gelegenheit. Es vermochte, echtes Bedauern auszudrücken oder trotzigen Widerspruch, es war ironisch, deftig und zärtlich, und es führte auf direktem Weg zur Pointe einer Geschichte.
    »Nebbich«, in einem Zug der Deutschen Reichsbahn geflüstert, war in diesem verzwickten Ausnahmefall der Auftakt und der Epilog eines Selbstgesprächs. In einem unbedachten Moment war Walter Opfer seines ehemaligen Berufs geworden: Ein Jurist hatte sich kurz, präzise und eindeutig auszudrücken. Deswegen hatte Walter den Mann, der versuchte, arglosen Leuten seine Aktentasche unterzuschieben, in Gegenwart eines Zeugen wissen lassen, dass er ihn für einen unglaublichen, erbarmungswürdigen Trottel hielt - und für einen Bruder in der Not. Mit dem litt er wie mit einem Bruder vom gleichen Blut. Ein geeigneteres Wort als das eine, das jeder Jude kennt, gleichgültig ob für ihn Jiddisch eine Weltsprache ist oder nur noch eine Reminiszenz an untergegangene Zeiten, hätte Walter nicht finden können. Auch der Mann aus Thüringen, der mit einem »Grüß Gott« und einem bayerischen Wams aus Deutschland zu entkommen hoffte und der nicht zögerte, einen Schicksalsgenossen in Lebensgefahr zu bringen, kannte das Wort »Nebbich«, denn er war ein Jude. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Abteil, den Rücken gebeugt, den Kopf gesenkt. Wie es ihm seine Frau zwei Wochen lang Tag für Tag eingebläut hatte, hielt er die Aktentasche fest unter den Arm geklemmt.
    »Ich kann gar nicht so viel kotzen, wie mir schlecht ist«, sagte Walter.
    »Besser, Ihnen ist jetzt schlecht, Herr Doktor, als an der Grenze, wenn Sie eine Tasche aufmachen müssen, und da sind irgendwelche seltenen Münzen drin oder Briefmarken oder sonst so ein verfluchter Dreck, der Ihnen das Genick gebrochen hätte, weil Sie zu gutmütig sind«, sagte Greschek. »Wenn ich in diesem Leben noch einmal in eine Kirche gehe, werde ich für Herrn Wolf eine Kerze anzünden.«
    »Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, mein lieber Greschek, dass er das brauchen wird. Und wenn Sie schon dabei sind, beten Sie auch für mich und die Meinen. Ich fühle mich sicherer, wenn ein Aufrechter in meinem Namen beim lieben Gott vorstellig wird.«
    »Für Sie bete ich sowieso, Herr Doktor. Dazu brauch’ ich nicht in die Kirche zu gehen. Was war das eigentlich für ein Wort, das Sie da gesagt haben, ehe der Mistkerl verduftet ist? So schnell wie ’ne angestochene Sau.«
    »Das erkläre ich Ihnen, wenn wir über der Grenze sind. S.G.W.«
    »Und was heißt das?«
    »So Gott will.«
    Seit dem Tag, an dem er das Billett für die »Ussukuma« abgeholt hatte, hatte Walter versucht, sich den Abschied von Deutschland vorzustellen. Was geschah mit einem, der keine Rückfahrkarte nach Hause hatte, an der Grenze? Wurde er stumm? Flehte er um Beistand, oder betete er um Mut? Oder wenigstens um Haltung? Konnte ein Mensch, der noch nicht einmal mehr an sich glaubte, überhaupt noch beten? Vielleicht zerriss sein Herz wie in den sentimentalen Küchenliedern, die die Dienstmädchen im Hof von »Redlichs Hotel« sangen, wenn sie die Gänse rupften oder Erbsen pulten. Am Ende erstarrte ein Mann in seiner Abschiedsstunde zur Salzsäule wie Frau Loth. Auch sie hatte einst Gott mit der Gnade der Gefühllosigkeit beschenkt. Oder wurde der Scheidende einfältig und übermütig und sang, die Aktentasche mit den Papieren fest unter den Arm geklemmt, »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus«, und wurde er dann noch an Ort und Stelle wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet?
    »Wir sollten jetzt an nichts mehr denken«, erkannte Walter, »ich hab mal gehört, das hilft am besten.«
    »Gegen was?«, fragte

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