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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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langt das Geld für keine Rückfahrkarte nicht?« Aus würgender Angst wurde eine Panik, die Kopf und Körper zu spalten drohte. Walter spürte einen dumpfen Schmerz im Knie. Er konnte die Hände nicht ruhig halten. Auf eine geradezu absurde Art drängte es ihn, seine Rechte in die Manteltasche zu bohren und Jettels Kastanie aus Leobschütz abzureiben - sie steckte ihm jeden Herbst eine Kastanie von der Promenade in die Manteltasche, weil ihre Mutter auf die Heilkraft von Kastanien bei Rheuma und Melancholie schwor. Ob die doppelte Verneinung, ebenso wie der vertrauliche Plural in der Anrede, tatsächlich nur eine typisch bayerische Sprach-färbung war? Oder doch eine der üblichen Fallen, um ein Vergehen zu konstruieren, das imstande war, einem Emigranten das Genick zu brechen? Ein deutscher Beamter, der an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich eingesetzt war, wusste ganz genau, was es bedeutete, wenn ein Italienreisender keine Rückfahrkarte vorweisen konnte. Ebenso klar hätte es allerdings einem geschulten Juristenverstand sein müssen, dass grammatikalische Finessen lediglich dazu taugten, Menschen mit höherer Schulbildung das Fürchten zu lehren.
    Der Mann in Uniform war erschöpft. Vom Leben und den Störungen der Galle. Er dachte an seinen Ofen, an seinen Hund und an seine Frau. Mit dem Groll der im Leben zu kurz Gekommenen machte er sich klar, dass er es seit fünf Jahren vorwiegend mit verängstigten Leuten zu tun hatte. Richtige Kreaturen waren das. Die zitterten ja bereits wie Espenlaub, wenn sie nach ihrem Namen befragt wurden. Auf die Dauer nahm so etwas dem stärksten Kerl die Kraft, und in den ersten Stunden eines anbrechenden Tages war dieser ausgelaugte
    Mann kein bisschen geneigt, Fallen zu stellen, die seinerseits selbstständige Entscheidungen erforderten und die grundsätzlich zu Überstunden führten. Das landestypische »ihr« pflegte er mechanisch zu verwenden und immer dann, wenn er zwei Leute gleichzeitig anzureden beabsichtigte. Er wusste sehr wohl, dass Reisende, die ihr gesamtes Vermögen dafür gegeben hätten, zu Hause bleiben zu dürfen, im Januar 1938 keine Rückfahrkarten besaßen.
    »Keine Rückfahrkarte?«, fragte er trotzdem. Die Frage gehörte zu seinem Repertoire wie der morgendliche Spaziergang mit dem Rauhaardackel. Eine dienstübliche Frage war nie fehl am Platz. Sie war klärend und ließ sich von jedermann ordentlich beantworten. Selbst von den Preußen und Deppen. Normfragen eigneten sich optimal für Nächte, in denen die Erfordernisse des Dienstes nicht dem eigenen Befinden entsprachen.
    Der leberkranke Herrscher der Zollstation an der Grenze zu Österreich hatte innerhalb von nur fünfzig Minuten zwanzig Auswanderer abgefertigt und fünf davon in die Heimat zurückexpediert, die sie nicht mehr haben wollte. Die Nacht vom 8. auf den 9. Januar war ihm noch länger geworden als sonst seine Arbeitszeit. Wegen seiner Leibschmerzen hatte er eine doppelte Dosis Tabletten geschluckt, in der kurzen Erholungsphase aber auch eine doppelte Portion Semmelknödel mit Bauchfleisch und Kraut gegessen. Nun hatte er einen tiefen Widerwillen gegen Essen und Menschen, wobei der Ekel vor Menschen unabhängig von deren Konfession, Wohnort und Reiseziel war. Zehn Minuten vor Dienstschluss war selbst von einem deutschen Beamten nicht zu verlangen, dass er sich, wenn er nicht einen handfesten Verdacht hatte, eingehend mit der Frage beschäftigte, weshalb von zwei Männern, die zweifellos zusammen reisten und ein gemeinsames Ziel hatten, der eine die übliche Rückfahrkarte hatte und der andere nicht.
    »So, so«, brummelte der Diensthabende. Er sagte dies, weil er der Meinung war, die beiden Worte würden ihn nach jeder Richtung hin absichern, falls sich unerwartet ein Vorgesetzter zeigte. Und dann sagte er, weil er zu sehr vom Leben gebeutelt war, um sich in diesem Zustand genau zu überlegen, was er sagen durfte und was besser nicht: »Habt’s Schwein gehabt, ihr beiden. Beeilt euch, der Zug wartet nicht auf niemand. Schon gar nicht auf die Vögel aus dem Osten.« Mit dem von der Stempelfarbe lila markierten rechten Beamtendaumen zeigte er auf die offen stehende Tür.
    Obwohl Walter sich ausschließlich darauf konzentrieren wollte, Gott dafür zu danken, dass er sein Vaterland als freier Mann verlassen durfte, schaute er beim Hinausgehen in den Nebenraum. Dort gab es außer einem Schreibtisch und einem Stuhl für den Diensthabenden, der mit geschlossenen Augen eine dicke

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