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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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parat, oder sie erzählten Geschichten, die harmlos genug waren, um aufkommende Ängste zu beschwichtigen. Ahnungslose Reisende, die sich darauf einließen, bis nach der deutschen Grenze einen Handkoffer, Papiere oder auch nur ein Buch oder einen Briefumschlag in Empfang zu nehmen, hatten in der Lotterie des Überlebens ihre Chancen verspielt.
    Oft waren die Leute, die ihre Habe nur »ganz kurz in guten Händen« wissen wollten, weil sie auf die Toilette mussten oder etwas im Speisewagen hatten liegen lassen, Gestapospitzel, die ihre vertrauensseligen Opfer dann umgehend beim deutschen Zoll ablieferten. Noch schlimmer: Bei den Bittenden handelte es sich immer wieder auch um Schicksalsgenossen, die ihre Wertsachen oder Geld aus Deutschland schaffen wollten, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. »Die Wege nach Dachau und Buchenwald«, hatte es Heini Wolf formuliert, »sind mit gefälligen Trotteln gepflastert, denen man etwas zugesteckt hat, ehe sie dazu kamen, Nein zu sagen. Beim alten Weißkopf war es ein Buch, das er gegen einen Botenlohn von dreihundert Mark nach Prag schaffen sollte, weil der ursprüngliche Besitzer im letzten Moment zu seiner tödlich erkrankten Mutter gerufen worden war, seine geschäftlichen Verpflichtungen aber einhalten wollte. Für eine solche Berufsauffassung hat doch gerade ein ehemaliger deutscher Richter Verständnis. Leider handelte es sich bei der Lektüre um eine Erstausgabe von Schiller, und so etwas ist bekanntlich eine Antiquität und muss an der Grenze eigens als solche deklariert werden.« Greschek wusste, dass Weißkopf nie nach Prag gekommen und in Nürnberg schon in der Untersuchungshaft gestorben war. Er brauchte keine Minute Bedenkzeit. »Der Speisewagen«, knurrte er mit der üblen Laune des geborenen Misanthropen, als der er in ganz Leobschütz berüchtigt war, »hat zu. Haben Sie keine Augen im Kopf? Sie müssen doch in München gesehen haben, dass alles dunkel ist. Sie sind doch in München zugestiegen. Oder nicht?«
    Trotz aller Überlegungen, die ihn bedrängten, litt Walter mit dem Mann, der immer noch verkrampft vor ihm stand und der probierte, sich nicht von Grescheks einschüchterndem Ton vorzeitig zum Rückzug drängen zu lassen. Wie ein Ertrinkender einen Rettungsgürtel umklammerte der Hilfesuchende seine Aktentasche. Er lächelte gar, doch zu kurz; er hatte weder die Zeit noch die Kraft, seinem Lächeln zu vertrauen. Sein Mund war eine schmale Linie. Die Nasenflügel bebten.
    Die Situation war typisch für das Jahr 1938. Walter begriff für alle Zeiten, dass er mehr verloren hatte als seinen Beruf, seine Heimat und seine Ehre. Es war ein Moment, über den er nie hinwegkam. Fünfzig Kilometer vor der Grenze wurde ihm endgültig klar, dass es nicht die großen Schläge des Schicksals waren, die einem Mann verkündeten, was ihm die Stunde geschlagen hatte. Den Alltag mit einem unerschöpflichen Vorrat an Gemeinheiten und Diffamierungen zu spicken war die wirksamste Waffe der Nazis. Schon mit ihrem ersten Schlag hatten sie den deutschen Juden klargemacht, dass sie Ausgestoßene und vogelfrei waren. Vorbei für immer war ab dem 30. Januar 1933 die Illusion vom gleichberechtigten deutschen Bürger jüdischen Glaubens, der im Krieg für seinen Kaiser gekämpft hatte und für alle Zeiten gewiss war, dass das geliebte Vaterland ihm seinen Einsatz danken würde. Spätestens im Jahr 1938 musste allen Juden bewusst sein, dass sie für die Nazis keine Menschen waren.
    Als er die Hoffnung verloren gab, eines Tages wenigstens mit gesunden Sinnen und reparabler Seele diesem Albtraum zu entkommen, schaute Walter in die Augen eines Mannes, der ebenso mutlos war wie er selbst. Erschöpft suchte der, der eine Bitte abzuschlagen hatte, nach einer Antwort, die ihn selbst nicht gefährden und den Bittenden nicht demütigen würde. »Niemanden fürchten, keinen verletzen« war das Motto seiner Breslauer Studentenverbindung gewesen. Was war aus dem Ideal geworden? Eine Phrase. Ab damit in die Mottenkiste zu den Mänteln, Lackschuhen und Wollschals und zu all den Erinnerungen, die nur Ballast für eine Afrikareise waren. Verlegen fixierte Walter den bayerischen Hut. Die Situation erschien ihm ebenso absurd und unwirklich wie seiner unwürdig. Sein Lächeln, als tröstende Verbindlichkeit gedacht, entglitt zu einem Grinsen. »Nebbich«, sagte er leise.
    Es wurde ihm schwer, sich nicht an die Stirn zu schlagen wie einer, der an seinem Verstand zweifelt. Der sprachbewusste Doktor Walter

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