Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
Italienisch?«
    »Sie spricht Deutsch, und es ist gar nicht so schwer zu verstehen, wenn man genau hinhört. Mein Vater hatte mal einen Knecht aus dieser Gegend. War ein hochanständiger Bursche, der Toni. Der konnte ein ganzes Kalb auf seinem Buckel tragen.«
    »Ach, Greschek, auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, wenn Sie statt meiner auswandern müssten, wäre mir um Sie nicht bange.«
    »Wenn ich könnte, würde ich Ihnen das auch abnehmen, Herr Doktor. Sie werden es nicht leicht haben. Ich hab oft festgestellt, dass die feinen und gebildeten Leute sich nicht für schlechte Tage eignen. Versuchen Sie doch, ein bisschen zu schlafen. Mein Vater hat uns Kindern immer erzählt, wenn er beim Militär nicht überall und bei jeder Gelegenheit hätte schlafen können, dann hätte er das Ganze nicht lebend überstanden.«
    »Komisch, genau das Gleiche sagt mein Vater.«
    »Da können Sie mal sehen. Es ging den Offizieren wie den Leuten.«
    Für Walter gab es keinen Schlaf mehr. War es das berauschende, so lange herbeigesehnte Gefühl der Befreiung, das ihn wach hielt? Wer die Angst, den Druck und die Demütigung hinter sich wusste, brauchte keinen Schlaf mehr. Doch die Trauer, dass er sein Deutschland nicht mehr wieder sehen würde, kehrte zurück - wie ein verlässlicher Freund, wie ein treuer Hund, wie der Mühlstein, den der Beladene um den Hals trägt.
    Es war eine Nacht mit Sternen. Sie funkelten so intensiv, als hätten die himmlischen Scharen beschlossen, dass auf Erden nur noch das Schöne und Gute geschehen dürfte. Der Zug drängte immer schneller in den Süden. Von den
    Schienen hörte der Davongekommene die verheißungsvolle Botschaft von Aufbruch und Neubeginn. Für den Moment der Gnade, da sich seine Seele betrügen ließ, schwor Walter, künftig mit dem alten Kinderglauben Gott zu vertrauen und nie mehr dem Kleinmut des Zweiflers nachzugeben. Als die Dunkelheit lichter wurde und sich am Himmel ein hellgrauer Strahl von Tageshoffnung abzeichnete, grübelte er indes schon wieder, ob er im Zorn oder in Trauer an Deutschland dachte. Er ahnte nicht, dass er sich nie würde entscheiden können.
    Er nahm sich vor, in Genua eine Karte an Regina zu schreiben. »Dein Papa hat im Zug mit einem Huhn geschlafen, und es hat ihm ein goldenes Ei gelegt und ein ganz großes Geheimnis verraten«, formulierte er. Ehe der geschätzte Erzähler von Gutenachtgeschichten aber dazu kam, seine Phantasie zu belobigen, musste sie aus dem Tagesprogramm gestrichen werden. Walter fiel ein, dass jedes Stück Post aus dem Ausland wahrscheinlich von den Nazis gelesen wurde, Postkarten ganz bestimmt. Man konnte nicht darauf bauen, dass ein goldenes Ei als Teil des deutschen Märchenschatzes gewertet werden würde. Auf einer Ansichtskarte, die ein vaterlandsloser Geselle aus dem Ausland an sein Kind schrieb, galt so ein Ei wahrscheinlich als versteckter Hinweis auf geschmuggelte Wertsachen. Walters Seufzer, obwohl passend leise, weckte sowohl Greschek als auch das Huhn.
    In Franzensfeste blickte eine imposante Burganlage mit einem runden Turm auf das Tal hernieder. Die Schönheit der Landschaft, die Ahnung von den fruchtbaren Feldern im Sommer und die Vorstellung von weidenden Kühen stimmten Walter traurig. Er fragte sich, weshalb er sich nicht in überschaubaren Zeiten darum bemüht hatte, die
    Welt kennenzulernen. Eine Reise von mehr als acht Tagen Dauer war ihm stets als ein Luxus erschienen, der ihm nicht zukam. Wahrscheinlich hatte Jettel recht, wenn sie ihn als kleinstädtischen Spießer beschimpfte. Mit dem Gedanken, dass es einem Emigranten verwehrt war, Versäumtes nachzuholen, schickte er den vier Linden einen wehmütigen Gruß, die im Frühling vor »Redlichs Hotel« so herrlich blühten, dass Spaziergänger stehen blieben, um sich an ihnen zu erfreuen. Dazu aß er ein Brot, dick bestrichen mit Inas Leberhäckerle. Zum ersten Mal schwante ihm, dass es vor allem die Geschmacksnerven sind, die einem Menschen zeitlebens das Vergessen verwehren.
    Laut Fahrplan und Heini Wolfs Schilderungen aus der Zeit, als es ausschließlich Ferienreisende nach Italien gezogen hatte, war der Tagesanbruch erst vor Verona fällig. Durch die Verspätungen an den beiden Grenzen stand die Sonne aber bereits am Himmel, als der Zug sich der mittelalterlichen Stadt Klausen näherte. Sie beleuchtete das Kloster Säben, eine gotische Kirche, den glitzernden Schnee auf den Bergen und die Eisack, die in ihrem Flussbett schäumte. Walter erkannte die

Weitere Kostenlose Bücher