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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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winterlich eingekleideten Bäume nicht als Kastanien, aber doch schon die Weinreben auf den Hängen. Einen kurzen Augenblick meinte er, den Frühling zu ahnen, doch dann fiel ihm ein, dass es für ihn keinen europäischen Frühling mehr geben würde. Er biss sich auf die Lippen und kam sich wie die bemitleidenswerten kleinen Straftäter vor, die nur deshalb eine Schuld eingestehen, weil sie die Anklage nicht verstehen. Der Zug fuhr an einer Burg vorbei und an der Kapuzinerkirche, die die mittelalterliche Stadt vor allem Bösen beschützt, und hielt so plötzlich, dass der Schaffner im Gang stolperte. Der Mann fluchte auf Deutsch, auf dem Bahnhofsschild stand die italienische Bezeichnung für den liebenswerten Ort.
    »Chiusa«, buchstabierte Walter.
    »Klausen«, verbesserte die Bäuerin. Sie war unmittelbar nach ihrem Huhn wach geworden und schüttelte energisch ihren Kopf. Eine einzelne Haarsträhne löste sich aus dem Zopfkranz und tanzte auf ihrer Stirn. Es war ein Tanz, der müde Männer zu Helden ihrer Wunschträume macht. Walter hatte noch nie über die Augenfarbe der Circe nachgedacht. Nun dämmerte es ihm, dass es bestimmt hellblaue Augen und maisblondes Haar gewesen waren, die Odysseus von seinem Kurs abgebracht hatten. Der schlesische Weltreisende lächelte der Verführerin im Bauernrock trotzdem zu. Sie lächelte zurück. In einem stummen Gebet, das er erst am Ziel aus seinem Herzen hatte lassen wollen, bat Walter Gott, er möge ihn vor allen Versuchungen schützen, bis er Jettel und seine Tochter wiederhatte.
    »Klausen«, wiederholte die Frau. Sie hatte die blaue Schürze nicht mehr an. Für einen Mann, der ohne Weib und Kind in die Welt zog, sangen die silbernen Knöpfe an ihrem stramm sitzenden Mieder unfromme Lieder. »Nicht Chiusa?«, wollte Walter wissen.
    »Nein«, sagte sie mit dem gleichen tiefen Stimmenschwung, der zwei Stunden zuvor das Huhn bewogen hatte, sich ihrem Körper anzuvertrauen.
    Mit der Intuition und Erfahrung der Grenzvölker erkannte Walter, dass seine Circe ihr Nein als ein politisches Bekenntnis verstanden haben wollte. »Klausen«, ging er bereitwillig auf die Vorgabe ein, »ist viel schöner. Und auch richtig.« Er hätte seiner Reisegefährtin gern erzählt, dass auch er aus einem Gebiet stammte, in dem die Menschen nicht gefragt wurden, ob ihnen das Diktat der Mächtigen behagte. Sohrau, seine Vaterstadt, war im Jahr 1922 polnisch geworden und hieß seitdem Zory. Vater und Sohn Redlich hatten das nie verwunden.
    »Der Krieg war schuld«, sagte Walter, »Sarajewo, Verdun, Isonzo, Versaille, St. Germain«, zählte er auf.
    Die Frau nickte. Ihr Busen lockte. Walter zwang sich, aus dem Fenster zu schauen, aber seine Augen gehorchten ihm nur bis zum nächsten Tunnel. Sie lachten beide ein wenig und mutmaßten, sie hätten das Gleiche gedacht. Danach sah es so aus, als würde doch noch eine Unterhaltung oder wenigstens einer jener kurzen Flirts zustande kommen, für die Bahnreisen seit Erfindung der Dampfmaschine berühmt sind. Unmittelbar vor Bozen aber steckte die Frau das Huhn zurück in den Korb. Weniger behutsam weckte sie ihre Tochter. Die Kleine nörgelte ebenso anhaltend wie Regina, wenn sie aus dem Schlaf gerissen wurde. Die Mutter besänftigte das Huhn, band die Schürze um, klemmte die tänzelnde Haarsträhne in den Zopf und zog ihren Mantel an. Der Tochter drückte sie einen Strauß Trockenblumen in die Hand, blaue, gelbe, goldene und violette. Obwohl das Mädchen ein geblümtes Kopftuch trug, sah es mit den Blumen in der Hand wie Rotkäppchen aus. Walter lächelte der Kleinen zu und schämte sich umgehend, weil er einem Kind die Heimat neidete.
    Der Zug fuhr langsam in Bozen ein. Der Tag war sonnenhell; er versprach Menschen, die nicht ein Schiff nach Mombasa erreichen mussten, dass es auf der Welt wieder warm und frühlingsfroh werden würde. Ein Mann mit einer grünen Schürze über seiner ledernen Knie-bundhose rollte mit einem hohen, zweirädrigen Wagen am Zug vorbei; er bot Orangen, Zitronen und Äpfel an, die aussahen, als wären sie im Garten Eden gereift. Circe mit der Haarkrone stand an der Tür des Abteils, neben sich einen braunen Pappkoffer. Sie zupfte am Mantel ihrer Tochter und zog das Kinderkopftuch ein Stück nach hinten. Plötzlich drehte sie sich noch einmal um, holte eine Flasche Wein und ein großes Stück Käse aus ihrem Henkelkorb und reichte beides Walter. »Für die Reise«, sagte sie. Ihr Ton war sanft, denn sie konnte lesen, was in Augen

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