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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Obenauf lag ein rot-weißkariertes Leinensäckchen. Kaum dass er sich gesetzt hatte, holte der Familienvater drei Speckstücke aus dem Sack, wählte das kleinste aus und säbelte eine große Portion mit seinem Taschenmesser ab. Er kaute mit ansteckender Freude, den zweiten Bissen bekam der Alte, der Sohn den dritten. Für seine Frau schnitt der Mann ein längliches Speckstück ab. Das untere Ende umwickelte er sorgsam mit einem Stück weißen Papiers, das er aus seiner Westentasche holte. Auch das Baby wurde bedacht. Es hatte genauso viele Zähne wie sein Großvater, nämlich vier, und lutschte ebenso geräuschvoll wie der Alte am Fettrand des Specks.
    »Donnerwetter«, entfuhr es Walter.
    Der Vater hielt den Ausruf des Staunens für eines der Komplimente, auf die sein strammer Stammhalter ein Urrecht hatte. Er lächelte mit der Wohlgefälligkeit aller stolzen Väter, zwinkerte mit dem rechten Auge Walter zu, sprach einige Worte mit seiner Frau und beriet sich mit dem Großvater. Der nahm den Speck aus dem Mund und nickte Zustimmung, worauf sein Sohn das Taschenmesser ableckte und zwei weitere Stücke Speck abschnitt. Das eine reichte er Walter, das zweite Greschek.
    Die Bedachten zierten sich nicht - schon weil sie nicht wussten, wie sie hätten widersprechen sollen, ohne einen Mann zu kränken, der so aussah, als hätte er noch nie in seinem Leben jemanden gekränkt. Dem einen wurde es warm in der Kehle und behaglich im Magen. Bereits beim dritten Bissen kam er zu dem Schluss, dass der Südtiroler Speck es durchaus mit den Produkten aus der väterlichen Metzgerei aufnehmen konnte. Walter fragte sich, ob er nicht bisher die Weisheit des religiösen Gebots unterschätzt hatte, das den Juden den Verzehr von Schweinefleisch untersagt. In ihm entflammte ein starkes Bedürfnis nach dem Weinbrand in seinem Korb, doch wiederum befürchtete er, es würde die freundliche italienische Familie befremden, wenn sie merkte, dass ihre spontane Warmherzigkeit dem Bedachten auf den Magen geschlagen war. Da griff der Großvater ein. Aus seiner Jackentasche holte er eine mit blauem Enzian und roten Beeren bemalte Reiseflasche, goss das Deckelchen voll und drückte es Walter in die Hand. »Prost!«, druckste er. Händereibend wiederholte er seinen sprachlichen Coup.
    Walter war sicher, er hätte sich verhört. Er überlegte, ob der scharfe Schnaps ihm nur den Rachen oder gleichzeitig den Verstand verbrannt hatte. Trotzdem gelang es ihm, erst den Vater und dann seinen Sohn anzulächeln. Das Höllengebräu trieb die Gespenster, die ihn seit Jahren gejagt hatten, auf einen Schlag in die Flucht. Ihm war es, als hätte es nie die Teufel mit braunem Hemd und Stiefelschritt gegeben. Er schaute kurz in den Himmel, und lange sah er die Menschen an, die ihn wie einen Menschen behandelten. Wärme durchströmte ihn. Sein Gedächtnis ließ sich nur kurz nach der passenden lateinischen Vokabel bitten. »Gratia« sagte er.
    »Grazie«, platzte es aus dem Knaben mit den Kohlenaugen heraus. Ein väterlicher Zeigefinger ermahnte das kichernde Kind.
    Das sabbernde Baby auf Mutters Schoß brauchte nur den
    Arm auszustrecken, um an Walters Krawatte zu ziehen. Auf einem weißen Strich zwischen zwei blauen hinterließ es ein nie mehr zu tilgendes Andenken aus roter Marmelade. Dieses glückliche Kind, das zufällig und doch als Geschenk des Schicksals die Umlaufbahn eines Unglücklichen kreuzte, krähte beim Kauen und zielte genau, wenn es spuckte. Bambino zupfte Walter am Haar. Es boxte ihn mit einer winzigen Faust in den Nacken und lachte wie ein Engel. Der Getroffene spürte eine Andeutung von Schmerz und eine Freude, die ihn überwältigte. Er sagte: »Ach«, und versuchte - vergeblich - mit den Ohren zu wackeln. Stattdessen streckte er die Zunge heraus. Die Lieder der Jugend betäubten ihn.
    In dem Augenblick, da er seinen Jubel zu deuten vermochte, machte sich Walter Redlich, ehemals ein geschätzter deutscher Bürger, zum Sprung in die Wolken bereit. Diesen kurzen, gnädigen Zustand der Seligkeit vergaß er nie. Er wischte des Babys Sabber von seiner Wange und rekapitulierte auf analytische Juristenart, was tatsächlich geschehen war. Zum ersten Mal seitdem die Nazis an die Macht gekommen waren, spürte Walter in Gegenwart von fremden Menschen weder Angst noch Argwohn. Keiner bedrängte ihn, niemand würde ihn fragen, ob er Volljude im Sinne der Nürnberger Gesetze sei, ob er mit dem arischen Dienstmädchen außerehelichen Geschlechtsverkehr

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