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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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gehst.«
    »Das wird sich ändern.«
    Eine Frau in einem Blümchenrock stand auf Zehenspitzen am Bahnsteig. Sie hielt in beiden Händen ein großes weißes Taschentuch, das im Wind wie eine Fahne wehte. Der Dampf der Lokomotive stieg zu den Wolken. Regina sagte: »Ach«, und verriet, weil sie das ja durfte, wenn sie leise sprach, der Puppe Josephine ein Geheimnis. Schon war die Oder nur noch ein silbernes Band, leblos und unwirklich. Jettel schloss die Augen, doch sie hatte verlernt, wie ein Kind zu fliehen. Ihr Gedächtnis gab keine Ruhe. Die Erinnerungen führten sie zu einer weißen Bank, die seit mehr als dreißig Jahren unter einem Lindenbaum am Ufer stand. Dort hatte die zwölfjährige Jettel mit ihren Vettern Hirschstein das Leben ausprobiert. Der gleichaltrige Franz mit den schwarzen Haaren und blauen Augen war in Jettel verliebt gewesen, Jettel jedoch in den semmelblonden Willi. Der war längst nicht so gutmütig und auch nicht so gut aussehend wie Franz, aber zwei Jahre älter als der Bruder. Weil er schon viel von Frauen und einiges von der Liebe verstand, ritzte er Jettels Namen und seinen, dazu noch zwei ineinander verschlungene Ringe in die Bank. An dem Freitag im August beschloss Jettel, ihren Vetter Willi zu heiraten. Als die Zeit für Versprechungen und Verlobungen gekommen war, erwählte er jedoch eine Frau mit einem beträchtlichen Vermögen und ohne Busen. Auch hinkte sie ein wenig und war zehn Jahre älter als ihr Mann. Die beiden wanderten 1935 nach Kanada aus. Willi gab sich immer noch mit Sitzmöbeln ab. Allerdings als Handelsvertreter. Als die Redlichs an Auswanderung dachten und ihn um Hilfe baten, antwortete er postwendend. Er könne leider nichts für Jettel tun, schrieb er aus Montreal. Das Wort »leider« unterstrich er mit zwei dicken Balken. Franz war nach Palästina emigriert. Seine Mutter erzählte, er müsste sich dort in einem Kibbuz als Erntearbeiter quälen und wäre »viel zu gutmütig für das Land«.
    »Die Oder ist schon nicht mehr zu sehen«, schluckte Jettel. Sie schaute ihre Mutter an, doch obgleich Ina fühlte, was ihre Tochter bewegte, zuckte sie mit den Schultern.
    Josephine im Bastrock, die auf dem Tischchen am Fenster saß, stürzte zu Boden und ausgerechnet auf den Kopf. Sie musste mit einem Sahnebonbon aus der Ledertasche getröstet werden, quengelte aber trotzdem weiter. »Bis du Großmutter bist«, sagte Regina und imitierte Ina, »hast du alles vergessen. Kinder vergessen schnell.«
    »Das glaube ich nicht«, widersprach Josephine mit Reginas Stimme.
    Die Bäume waren nicht mehr von den Telegraphenstangen zu unterscheiden, und die Vögel sahen alle aus wie kleine schwarze Gummibälle. Die Häuser am Bahndamm wurden so winzig, dass noch nicht einmal Erich Zimmermann sie für seine Spielzeugeisenbahn hätte gebrauchen können. Erich wohnte noch in Leobschütz. Sonntags hatte Regina immer mit ihm gespielt, denn er war ja auch jüdisch. Bei Zimmermanns durfte jeder hören, was sie sagte. »Wir fahren zu meinem Papa«, vertraute Regina ihrem Plüschaffen an, »aber ich sage dir nicht, wo der ist. Sonst wird er von einem Hitlerjungen gefressen.«
    »Psst«, erschrak Jettel. Sie drückte ihren Finger leicht auf Reginas Mund. »Es können immer noch Leute einsteigen.«
    Das geschah erst vierzig Minuten später. Da hatte das empfindliche hellblaue Flügelkleid den ersten Fleck bekommen, Regina einen Wutausbruch und Fips von Regina eine Backpfeife. Regina schämte sich sehr, als all dies geschah. Sie weinte ein bisschen und wurde von ihrer Mutter mit einem Kuss beschwichtigt. Obgleich das Kind die überraschende Zärtlichkeit nicht im vollen Umfang deuten konnte, spürte es doch, wie sehr Mutter und Großmutter bemüht waren, Aufsehen zu vermeiden. »Sind wir bald in Hamburg?«, ergriff Regina die Gele-

    »Später. Abends, wenn es dunkel wird und du ein bisschen geschlafen hast.«
    »Immer sagt ihr später. Sind wir schneller in Hamburg, wenn ich schlafe?«
    In Rawitsch stieg eine große, hagere Frau ein, die blonden Haare durch einen Mittelscheitel getrennt und im Nacken zu einem festen Knoten geflochten. Sie sagte energisch: »Heil Hitler«, zog die Tür des Abteils kräftig zu, entdeckte das umfangreiche Gepäck, seufzte und schüttelte den Kopf. Stirnrunzelnd stellte sie ihre kleine Reisetasche auf Inas Handkoffer. Spätestens als sie die verschreckten Gesichter von Jettel und Ina bemerkte, musste ihr aufgefallen sein, dass weder die beiden noch das Kind ihren Gruß

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