Nur die Liebe bleibt
Käthe gängeln zu lassen« und sich »energisch« um ihre Auswanderung zu bemühen. Jettel würde mit Gottes Hilfe in fünf Wochen ihre Ankunft in Kenia melden. Wie Ina richtig schätzte, würde ihr Herzenskind gewiss keine zuversichtlich stimmenden Briefe nach Hause schreiben. Käthe hatte nur noch Aussicht, aus Deutschland herauszukommen, wenn sie sich in England als Dienstmädchen verpflichtete. Allein der Gedanke empörte sie. Derzeit grollte Käthe der Mutter, dass die das einstige Herrenzimmer vermietet hatte, ohne sie zu fragen. Der neue Untermieter war Tenor an der Breslauer Oper gewesen, und obgleich er wusste, dass er als Jude nirgendwo in Deutschland mehr ein Engagement finden würde, bestand er darauf, jeden Morgen um halb acht seine Stimmübungen zu machen. Käthe stand nie vor elf Uhr auf und ging nie ohne Verwünschungen an seiner Tür vorbei.
Die »Adolph Woermann« galt als Luxusschiff, doch nahm sie auch Auswanderer mit. In allen drei Klassen, wie jene Glücklichen ehrfurchtsvoll hervorzuheben pflegten, die das Schicksal mit einem Schiffsbillett bedacht hatte. Jet-tel hatte sich angewöhnt, an dieser Stelle »Geld stinkt nicht« zu sagen. In der Zeit, in der sie auf ihre und Reginas Einwanderungspapiere nach Kenia hatte warten müssen, hatte sie nicht nur Englischstunden und einen Schnellkurs in Buchbinderei genommen, der präsumpti-ven Emigranten günstige Bedingungen einräumte. Sie hatte auch ihren Wortschatz und ihre ursprünglich sehr beschränkten Geographiekenntnisse erweitert. In Gesprächen mit Schicksalsgenossen, von denen die meisten ja nach Amerika oder in die europäischen Länder zu entkommen hofften, konnte sie bereits beeindruckend über die Gepflogenheiten der deutschen Seefahrt referieren und von der Route der »Adolph Woermann« berichten, die rund um Afrika fuhr. »Gott sei Dank macht der Kapitän erst die Ostküste«, erläuterte Jettel mit der Souveränität einer Globetrotterin, wann immer die Häfen zur Sprache kamen, in denen das Schiff anlegen würde. »Wir sind ja auch so schon fünf Wochen unterwegs, das Kind und ich. Das reicht.«
Seitdem der Termin der Abreise feststand, hatte sie sich auf das Packen der vier Überseekisten konzentriert - und auf den Kauf der Tropenausrüstung. Zwei neue Sommerkleider mussten ausgesucht werden und ein Abendkleid für Galaveranstaltungen auf dem Schiff. »Später, wenn Walter erst mal Fuß gefasst hat, werde ich das Kleid vielleicht auch in Nairobi brauchen«, hatte sie Heini Wolf am Abschiedsabend erklärt, und Heini hatte entzückend gelächelt und sehr charmant »Walter ist ein Glückspilz« g esa gt
Das Abendkleid hatte Jettel die letzten Tage in Breslau leichter gemacht. Das Kleid war der letzte Zipfel, der ihr von ihren Träumen geblieben war, und entsprechend liebte sie es. Beim Kaufen hatten sie und Ina so gelacht und gekichert wie junge Mädchen vor ihrem ersten Tanzstundenball, und beide hatten sie - wenigstens minutenlang - den Anlass des Kaufs vergessen und sich immer wieder Walters verblüfftes Gesicht ausgemalt, wenn er das lange, grün changierende Taftkleid mit den Blüten von rotem Klatschmohn und dem dazu passenden Bolero sah. In mindestens drei Briefen hatte Walter nämlich geschrieben, sie würde in Afrika kein Abendkleid brauchen. Mit markanten Unterstreichungen, die Jettel sehr verärgert hatten, hatte er sie gebeten, einen tropentauglichen Eisschrank mitzubringen. Noch einen weiteren Ratschlag von Walter hatte Jettel als »typischen Männerunsinn« abgetan. Obwohl er sie gewarnt hatte, Abschiedsbesuche würden ihr das Herz brechen und sie solle nur die unbedingt nötigen machen, hatte Jettel weder Freunde, flüchtige Bekannte noch entfernte Verwandte ausgelassen. Hatten die gemeinsamen Tränen, die Umarmungen der Verzweifelten und Hoffnungslosen sie getröstet oder noch mehr aufgeregt? Sie wusste es nicht.
Erst in dem Moment, da der Schaffner die Reisenden ermahnte, einzusteigen und die Türen fest zu schließen, ging Jettel endgültig auf, was fortan für sie Zukunft bedeuten würde. Auf einen Schlag hatte sie sich nicht nur von den Menschen getrennt, die sie liebte, und von denen, die die entzückende »Jettel Redlich, die schönste der drei Perlsmädels«, liebten. Ihre Jugend war vorbei, ihr Name keinen Pfifferling mehr wert, ihr Mann ohne Beruf und mittellos und sie ohne Hoffnung. Jettel streckte ihre Arme aus. Ihre Stirn brannte. Die Tränen, die sie nicht weinen durfte, drückten in ihren Augenhöhlen.
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