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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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nicht zu entkommen. »Du darfst nicht sofort weinen, Kind«, erklärte sie. »Was würde denn unserer Führer zu dir sagen? Der will doch, dass deutsche Mädels tapfer und stark sind.«
    Regina hielt den Kopf gesenkt. Obwohl sie auf den Boden schaute, gelang es ihr, ihre Hand zu befreien. Sie weinte nicht mehr. Die Stille im Abteil kam unerwartet. Für alle war sie peinigend und peinlich. Regina schnaufte beim Atmen. Ina verschränkte ihre Hände ineinander, um sie ruhig zu halten. Jettel hörte ihr Herz schlagen, und dennoch stand sie auf. Nicht hastig wie eine, die den Augenblick der eigenen Courage rasch ausnutzen will, ehe er wieder vergeht, sondern gelassen und mit der Würde, die nur den Selbstbewussten und Mutigen gegeben ist. Jettel schaute erst ihre Mutter an, dann ihre Tochter und schließlich die unwillkommene Mitreisende.
    »Wir waren gerade dabei«, sagte sie im alten, unbeschwerten Plauderton der alten, unbeschwerten Zeit, »im Speisewagen eine Tasse Kaffee trinken zu gehen. Das tun wir jetzt. Da haben Sie wenigstens ein bisschen Ruhe.«
    Den Affen Fips in der Linken, griff Regina nach der Hand ihrer Mutter. Noch war ihr Gesicht purpurrot, und ihr Mund stand offen, aber sie konnte schon wieder auf einem Bein stehen. Genau wie das Männlein im Walde, von dem sie sich, wenn sie nicht schlafen konnte, sehr oft fragte, wie es ihm gelang, immer still und stumm und trotzdem ohne Angst zu sein. Sie tat einen fröhlichen Hüpfer in Richtung Himmel. »Ja«, sagte Regina in einem singenden Ton, denn obwohl sie die Geheimnisse ihrer Familie hüten musste wie die königlichen Kammerdiener im Märchen die Schatztruhe ihres Herrn, war sie doch ein Kind wie jedes andere. Auf langer Reise lechzte sie nach jeder Form von Abwechslung.
    Ina nahm die Puppe Josephine mit den heiter klimpernden Ohrringen hoch und sagte: »Komm, mein Schatz.« Ihre Bewegungen waren so ruhig und graziös wie in den Tagen der Ruhe, doch wie Feuer brannte in ihr der Schmerz einer Großmutter, die ihrem Enkelkind nicht hatte zu Hilfe kommen dürfen. Einen furchtbaren Moment, den sie nie vergaß, spürte sie, dass diese Demütigung nur der Beginn des Leidens war. Sie schaute hoch und sah, dass Jettel ihre Schultern gestrafft hatte. Auf ihre Tochter war Ina stolz. Diesen wärmenden Mutterstolz würde sie erst recht nicht mehr vergessen. Jettel, von der ihr Mann stets behauptete, sie würde schon deshalb in jeder Notsituation versagen, weil sie nicht beizeiten gelernt habe, sich dem Leben zu stellen, ging mit erhobenem Kopf zum Speisewagen. Der Rock ihres gepunkteten Seidenkleids wippte. Wie die Fahnen zu Kaisers Geburtstag.
    »Walter wird sich wundern«, sagte Ina, als der Kaffee vor ihnen dampfte und Regina mit ihrem Zeigefinger erst Fips und dann Josephine mit der Schlagsahne fütterte, die auf der heißen Schokolade dümpelte.
    »Du meinst, wenn unser ganzes Gepäck geklaut wird«, sagte die verwegene Siegertochter. Ihr Lachen klang wie das Locken der jungen Jettel Perls auf dem Abschlussball der Tanzschule. Walter und Martin Batschinsky wollten beide den ersten Walzer mit ihr tanzen und hielten ihr eine rote Rose hin. Die kleine Kokette entschied sich damals jedoch für Karl Silbermann, der schon im achten Semester war und seine Anzüge aus Berlin kommen ließ. Jettel Redlich, ihre Wangen immer noch von Stolz gerötet, verweilte nur einen Herzschlag lang in der Welt, der sie erst vor ein paar Stunden für immer Adieu gesagt hatte. »Ich glaube nicht, dass da etwas passiert«, sagte sie munter und nickte in Richtung des Abteils. »Jedenfalls will ich doch hoffen, dass unsere deutsche Eiche armen Juden keine Koffer klaut.«
    »Psst«, hisste Regina. Sie legte ihren Finger auf den Mund ihrer Mutter.
    »Jetzt würde sich dein Mann noch mehr wundern«, staun-te Ina, »er behauptet doch immer, dass du keinen Humor hast.«
    »Ach, was weiß ein Mann schon von seiner Frau? Der macht sich oft noch nicht einmal die Mühe, seine Mutter richtig kennenzulernen.«
    »Deshalb bin ich ja auch immer froh gewesen, dass ich drei Töchter habe und keinen einzigen Sohn.«
    Obwohl Walter in zwei Briefen mit kräftigen Unterstreichungen geraten hatte, so wenig Geld wie möglich im Speisewagen auszugeben und für das Ersparte lieber Regina in Hamburg noch Gummistiefel für die Farm zu kaufen, gingen Ina, Jettel und Regina nicht zurück ins Abteil, als die Tassen leer waren. Um weitere Komplikationen mit ihrer Mitreisenden zu vermeiden, dehnten sie das ursprünglich

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