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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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erwidert hatten, doch sie ließ sich nichts anmerken.
    Die hochgeschlossene weiße Bluse der Frau, die Brosche aus Bernstein, die einen Kranz aus Ähren darstellte und die den obersten Blusenknopf verdeckte, der grüne Trachtenrock und der ungeschminkte Mund entsprachen ganz dem von den Nazis propagierten Frauenbild. Jettel wischte ihre Stirn trocken. Noch nervöser wurde sie, als ihr auffiel, dass die neue Mitreisende ihrer ehemaligen Mathematiklehrerin ähnlich sah. In den letzten drei Schuljahren hatte Fräulein Fischbach in jedem Zeugnis die mangelnde mathematische Begabung der Schülerin Perls als Aufsässigkeit und Lernunwilligkeit dokumentiert. Jettel unterdrückte das Bedürfnis, das Fenster aufzumachen. Ihr Taschentuch war schweißnass, ihre Hände aber kalt. Zu ihrem Erstaunen lächelte die Frau mit der Bernsteinbrosche Regina an. Sie strich ihren Rock glatt, setzte sich neben sie und sagte in dem gekünstelten Ton, den viele Erwachsene als den direkten Weg zu einem Kinderherzen erachten: »Du hast aber eine ganz feine Puppe. Wie heißt denn dein Liebling?«
    Regina war einen solchen anbiedernden Ton nicht gewöhnt. Seit dem Umzug von Leobschütz nach Breslau war sie überhaupt nicht mehr gewöhnt, von Fremden angesprochen zu werden. Sechs Monate lang war sie vor jedem Spaziergang, vor jedem Einkauf und auch beim Arztbesuch ermahnt worden, still zu sein und niemanden zu belästigen. Unsicher sah sie ihre Mutter an, danach ihre Großmutter. Es verwirrte sie sehr, dass beide ihr zunickten, als wollten sie sie zu einer Antwort ermuntern. Mutter und Großmutter lächelten gar die Fremde an. Regina sagte kein Wort. Sie drückte die Puppe fest an ihre Brust und starrte so lange auf den Boden, bis sie winzige schwarze Würmer sah - ein verschüchtertes kleines Mädchen in einem Flügelkleid, das sich Flügel wünschte, um aus dem Fenster zu fliegen. Zu den Engeln, die Kinder beschützten und Erwachsenen den Mund zuklebten. Schließlich entdeckte dieses flügellose, unbe-schützte Kind auf Mutters Handtasche seinen weißen Leinenhut. Regina ließ einen kurzen Augenblick die Puppe los. Sie setzte den Hut auf und zog ihn so tief in die Stirn, dass ihr Gesicht kaum noch zu sehen war und sie auch nichts mehr sah. Dann presste sie die Puppe wieder an sich.
    »Vielleicht weiß deine Puppe, wie sie heißt. Wollen wir sie mal fragen? Manche Puppen sind klüger als kleine Mädchen.«
    »Josephine«, murmelte Regina unter ihrem Hut.
    »Das ist aber kein schöner Name«, monierte die Frau. »Auch nicht für eine Niggerpuppe.« Sie lächelte nicht mehr, und doch waren ihre Zähne zu sehen.
    »Mein Papa hat gesagt, das darf man nicht sagen.« »Regina«, mahnte Jettel, »Kinder dürfen nicht widersprechen. Das weißt du doch. Und setz endlich diesen albernen Hut ab. Wir sind doch hier nicht im Zirkus.« »Sie hat angefangen«, weinte Regina und zeigte, obwohl sie das schon gar nicht durfte, mit dem Finger auf die Bernsteinbrosche. Sie rutschte vom Sitz, drehte sich einmal um sich selbst und stampfte erst mit dem rechten Fuß auf und dann mit dem linken. »Rumpelstilzchen« hörte sie die Stimme ihres Vaters aus Afrika sagen. Entsetzt steckte sie ihren Finger in den Mund. Wie eine Zweijährige. Auf Josephines schönen Bastrock tropften Tränen. »Sie hat mit mir gesprochen«, schluchzte Regina.
    »Ich wollte das ja nicht. Und Josephine will das auch nicht. Sie kann mit keinem Menschen reden. Nur mit mir.«
    Die drei Frauen schauten einander an, erschrocken, verstört und sehr befangen. Zwei von ihnen waren vogelfrei. Für sie war jedes Wort zur falschen Zeit und am falschen Ort ein Risiko. Nur die begnadete Dritte fürchtete weder die Zukunft noch Leute mit einem erhobenen Arm. Alle drei aber waren sie Mütter. Sie waren mit den verschlungenen Pfaden vertraut, die verängstigte Kinder einschlagen, wenn sie in den Irrgärten laufen, aus denen ohne Hilfe kein Entkommen ist. Die von der Gesellschaft Verstoßenen trauten sich nicht, sie selbst zu sein und ein verängstigtes Kind aus dem Labyrinth zu führen. Es war die Frau im Trachtenrock, die sprach.
    »Das ist doch nicht so schlimm«, tröstete sie. Ihre Stimme war sanft. Jettel und Ina sahen sie verblüfft an. Trotz ihrer Beklemmung und Angst waren sie der Frau dankbar, und es beschämte sie sehr, wie spontan und mit welcher Selbstverständlichkeit sie Regina für ihre Ungeschicklichkeit gezürnt hatten. Schon sprach die Frau weiter. Sie griff nach Reginas Hand. Ihrem Griff war

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