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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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oder drei Tage nach Breslau gefahren. Selbst in der Schwangerschaft. »Meine Mutter braucht mich«, hatte sie vor jeder Reise erklärt.
    »Du brauchst deine Mutter«, hatte Walter gewusst. Es war eines der seltenen Male, in denen Jettel ihm nicht widersprochen hatte.
    Mit der Mutter war sie einkaufen, ins Caféhaus und ins Theater und, wie in den schönen Zeiten vor der Ehe, auf Besuch gegangen. Zu den Tanten und Cousins und zu den alten Leutchen, mit denen »die gute Frau Perls, die ein goldenes Herz hat«, schon über dreißig Jahre befreundet war. Jetzt sagten sie alle, »alte Bäume verpflanzt man nicht«; sie weigerten sich, an Auswanderung überhaupt nur zu denken, und sie weinten, wenn sie Post von ihren Kindern bekamen. Die Töchter und Söhne lebten nun in Holland und Frankreich, in Schweden, Uruguay und New York. Sie schrieben, sie hätten sich Deutschland aus dem Herzen gerissen. Und baten ihre Eltern, ihnen zum Geburtstag Schwarzbrot und Eau de Cologne von 4711 zu schicken. Und das »gute Backpulver von Doktor Oetker«.
    Mit den Freundinnen vom Lyzeum hatte sich Jettel im Café Krone getroffen. Von ihnen hatten die meisten schon Lebewohl gesagt. Jenny Friedländer und ihr Mann waren vor drei Wochen nach Australien aufgebrochen. Suse Pinner, die Busenfreundin und Klassenbeste, putzte in Washington für eine exzentrische alte Dame, die darauf bestand, ihr Hausmädchen, das nur mit größter Mühe sein möbliertes Zimmer bezahlen konnte, in Naturalien zu entlohnen. Betty Langer war nervenkrank geworden und lag seit einem Jahr in Arosa im Sanatorium. Ihr Mann, ein berühmter Dermatologe und schon mit vierzig Professor, war noch vor seiner offiziellen Entlassung vom Pöbel aus einem Hörsaal der Universität gezerrt worden. Er hatte sich sechs Monate später auf dem Dachboden erhängt. Vera Stock, die in Jettels Poesiealbum geschrieben hatte »Genieße den sonnig-heiteren Tag, man weiß nicht, ob hienieden noch ein zweiter kommen mag«, erhoffte täglich die Nachricht, dass ihr Vetter zweiten Grades für sie bürgen und sie samt Mann und den drei Kindern nach Amerika holen würde.
    Ob die vielen stillen Straßen, in denen die kleine Perls im roten Rüschenkleid ihren Kreisel gepeitscht und ihren Reifen mit einem Stock geschlagen hatte, je aus dem Gedächtnis verschwinden würden? Nie wieder würde Jettel die Dominsel sehen und das weit über Breslau hinaus berühmte Rathaus, die schöne Schneidnitzer Straße und das geliebte Kaufhaus Wertheim. Für Inas mittlere Tochter war Einkaufen ein Lebenselixier gewesen. Allein die Seidenstoffe bei Wertheim zu fühlen und im Winter in die Pelzabteilung zu gehen und sich an die Mäntel zu schmiegen und zu träumen, man wäre Greta Garbo oder die Frau von Rudolf Valentino, war Lebenselixier für eine Frau, die ihrem Mann in eine Kleinstadt mit vierzehntausend Einwohnern gefolgt war.
    Es bekümmerte Jettel, dass sie am Vortag nicht noch einmal zu Wertheim gegangen war. Nun hatte sie noch nicht einmal ein Stück Maiglöckchenseife, um sich in Afrika an zu Hause zu erinnern, oder ein Fläschchen Uraltlavendel, wenn sie Kopfschmerzen bekam. Und Regina hatte keinen Ausschneidebogen, um die lange Bahnreise zu verkürzen - mit Puppen aus Pappe, die mit Kleidern, Mützen, Mänteln, Taschen und Schuhen bedacht werden mussten. Die Lichterflut bei Wertheim verdunkelte sich sehr plötzlich.
    »Nein«, wehrte sich Jettel. Sie fasste sich an den Hals und würgte.
    »Pas devant l’enfant«, murmelte Ina, »dazu haben wir uns doch fest entschlossen, Jettel.«
    »Das heißt, nicht vor dem Kind«, jubelte Regina. »Das sagst du immer, wenn ich was nicht verstehen soll. Das ist Negerisch. Das hat mir mein Papa gesagt. Ich darf das jetzt auch sagen. Du hast versprochen, ich darf alles sagen, wenn wir erst im Zug sind.«
    »Auf dem Schiff, Regina. Auf dem Schiff darfst du sagen, was du willst. Das verspreche ich dir.«
    »Kommst du auch mit aufs Schiff, Oma?«
    Der Zug fuhr bereits. Der Mann mit dem roten Luftballon am weißen Karren stand auf dem Bahnsteig. Für
    Regina wurde er ein Zwerg aus Schneewittchens Riege und für ihre Mutter eine herzzerbrechend deutliche Erinnerung an einen Tag im Mai, als Walter ihr auf einem Volksfest in Hennerwitz eine gelbe Papierrose geschossen und einen roten Luftballon gekauft hatte. »Gib Acht, Jettel, mit einem Luftballon ist schon manche Frau in den Himmel geflogen.«
    »Ich will aber nicht. Ich will immer bei dir bleiben, egal wohin du auch

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