Nur die Liebe bleibt
nur kurz bemessene Fluchtprogramm zu einem späten Mittagessen aus. Mutter und Tochter waren in allerbester Stimmung. Sie waren ohnehin mit dem flexiblen Gedächtnis von Frauen gesegnet, die sich von männlichen Ratschlägen nicht die Laune verderben lassen. Nach dem Kaffee und vor der Schwarzwälder Kirschtorte bestellten sie - auch für die heftig protestierende Regina - Frikadellen mit Spinat und Salzkartoffeln. Abermals sorgte Regina für eine unerwartete Pointe. Sie aß den Spinat mit einer solchen Lust, als hätte man ihr nicht seit ihrem dritten Lebensjahr weismachen müssen, der verhasste grüne Brei sei in Wirklichkeit eine Zauberspeise, der kleine Mädchen vor den Nachstellungen böser Buben und böser Hexen schütze. Selbst der Ober, der zu Hause vier kräftige Söhne hatte, denen keine Portion groß genug war und die Abstände zwischen den Mahlzeiten grundsätzlich zu lang, bestaunte Reginas Appetit. Er nannte sie ein Prachtmädel, klopfte ihr auf die Schulter und schenkte ihr eine Postkarte, auf der eine rote Lokomotive hellgelbe Wagen über eine Brücke zog. Reginas Augen funkelten Frohsinn. Sie sonnte sich im Beifall und griff vom Nachbartisch eine Anregung auf, die den Kellner noch mehr entzückte. Mit einem Stück Brot wischte sie ihren Teller rein.
»Was meinst du, wie sich unser Koch freut, wenn er deinen Teller sieht«, lobte er. »Die meisten Kinder mögen keinen Spinat.«
»Ich bin nicht wie die meisten Kinder«, sagte Regina. Für Ina und Jettel gab es zum Abschluss der Tafelfreuden Danziger Goldwasser. Der Ober schenkte es bei Tisch aus einer viereckigen Flasche ein, die linke Hand auf dem Rücken. Die winzigen Goldplättchen schwammen in der klaren Flüssigkeit; sie erzählten vergessene Geschichten, die fortan nie mehr in Vergessenheit geraten und in der Herzgrube schmerzen würden. Josephine, Fips und Regina durften an den Gläsern nippen. Alle fünf wurden fröhlich wie die Sonnenkinder, die im Bilderbuch den Regenbogen hinunterrutschten, doch nur zwei von ihnen kannten den Grund. Bald fiel Regina auf, dass die meisten Sätze von Großmutter und Mutter mit den gleichen drei Zauberworten anfingen. Auch Fips ging dazu über, »Weißt du noch?« zu fragen, und die barfüßige Josephine tanzte wild auf dem Tisch. Auf der anderen Seite des Ganges saß ein älterer Herr, der seinen Schnurrbart in Bierschaum eintauchte. Er war viel in der Welt herumgekommen und wusste über die Menschen Bescheid. Regina zwinkerte er mit dem rechten Auge zu. »Deine Puppe braucht einen Gürtel aus Bananen«, schlug er vor.
Regina vergaß, dass sie ein Kind zu sein hatte, das fremde
Menschen sehen, aber nicht hören sollten. Mit der deutlichen Stimme, die ihren verängstigten Eltern von Jahr zu Jahr mehr Kummer gemacht hatte, vertraute sie dem Kinderfreund an: »Den Gürtel kriegt Josephine erst, wenn wir in Afrika sind.« Beim letzten Wort erschrak sie dann doch. Sie schlug sich gar auf den Mund. Betreten schaute sie Jettel und Ina an, doch das Danziger Goldwasser hatte schon zu wirken begonnen. Beide nickten Josephines Mutter zu, als dürfte ein Kind alles sagen, wonach ihm zumute war.
Als der Zug dabei war, in Frankfurt an der Oder einzufahren, konnte Regina, erschöpft von den Aufregungen des Tages, der Nervosität der Erwachsenen, dem aufmerksamen Belauschen von Gesprächen, denen sie nicht folgen konnte, und dem ungewohnt vielen Essen, kaum noch die Augen offen halten. Ina und Jettel hatten erhitzte Gesichter und ein brodelndes Gewissen. Beide machten sich gewaltige Vorwürfe, dass sie sich so lange nicht um das Gepäck gekümmert hatten. Wie Kinder, die zum ersten Mal allein verreisen! Den Rückweg ins Abteil traten sie mit Blei unter den Schuhen und klopfenden Hasenherzen an.
»Kommen Sie wieder«, empfahl der Kellner mit den vier unersättlichen Söhnen, »bis Hamburg ist der Weg noch lang.«
»Woher der wohl weiß, wohin wir fahren?«, sorgte sich Jettel.
»Wahrscheinlich sagt der das immer«, beruhigte sie Ina, »der Zug fährt ja nach Hamburg.«
Alle Koffer standen auf ihrem Platz. Reginas Leinenhut lag auf der Reisetasche, ein Apfel, der zuvor noch nicht da gewesen war, auf dem Tischchen am Fenster. Jedoch war die Frau im Trachtenrock weg. Mitsamt ihrem kleinen Koffer. Es war niemand mehr zugestiegen. »Gott sei Dank!«, sagten Jettel und Ina im Chor. »Das hätten wir hinter uns.«
Eine halbe Stunde später, als Jettel zur Toilette ging, sah sie die ehemalige Mitreisende wieder. Sie hatte
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