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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Die weißen Sonnenflecken aber wirbelten weiter im Bahnhofsgebäude herum, als würde an diesem Samstag, dem 18. Juni, nur ein ganz gewöhnlicher Zug zu seiner fahrplanmäßigen Reise starten.
    »Mami, wo ist Amerika?«, fragte ein kleiner Junge mit rutschenden Kniestrümpfen, der den Gang entlanggeschoben wurde.
    »Geradeaus«, antwortete seine Mutter. »Nu mach schon, sonst geht’s in die Hose.«
    Ein junger Mann schnalzte mit der Zunge. »So eine Mutter wie Sie hätte ich auch gern gehabt«, lachte er.
    Die, die verschont wurden, hatten gut lachen. Das Glück kam immer zu den anderen. Für sie regnete es Sternschnuppen, für Pechmarie Teer. Früher waren die anderen die Pechmarie gewesen, Jettel das Sonntagskind. Sie faltete die Arme vor ihrem Bauch. Ihre Augen tränten und waren schon am Ziel. Im Zug hing ein farbiges Plakat der deutschen Afrika-Linie. Ein Mann in Turban und Lendenschurz spannte seinen Bogen unter Palmen, hinter ihm eine Frau mit bloßer Brust und bunten Perlen um den Hals. Für Jettel bedeutete Afrika das Ende aller Vertrautheit, den Tod der Gewohnheit. Aus würde es mit dem wöchentlichen Friseurbesuch sein, mit Romanen aus der Leihbücherei, Kino am Samstagabend und dem Kaffeeklatsch mit Frau Schlesinger, Frau Bacharach und Ännchen Wohl. Jeden zweiten Mittwoch am Leobschüt-zer Ring. Zitronentorte und Schokoladeneclairs. »Mit einer halben Portion Sahne. Sonst werde ich zu dick.« Kichern und Gelächter und Kakao mit Nuss. In ganz kleinen Schlucken.
    Vorbei die Schmeicheleien und Komplimente und die kleinen Versuchungen, die das Leben würzten. Auf einer Farm im Nirgendwo flogen einer jungen Frau keine Herzen mehr zu, mochte sie noch so schön sein. Und doch, als der Termin des Wiedersehens endlich feststand, hatte Walter geschrieben: »Ich komme mir vor wie der Bräutigam vor der Hochzeitsnacht.« Waren nach sechs Monaten Trennung und Todesangst überhaupt noch Nächte der Liebe und Leidenschaft möglich? Was bedeutete
    Liebe, wenn das Glück zerbrochen war, was Leidenschaft?
    Ein Mann mit einer roten Mütze und Kursbuch rüttelte an einer Tür und prüfte ein Fenster. »Vorsicht, junge Frau, dass Sie nicht umfallen«, warnte er, »wir fahren gleich los. Setzen Sie sich lieber hin. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«
    »Porzellankiste«, wiederholte Jettel. Ihr ging erst auf, dass sie sich falsch verhalten hatte, als der Uniformierte sie verblüfft anschaute.
    Sobald sich der Zug in Bewegung setzte, würde es keine Heimatstadt mehr geben. Nicht eine der Breslauer Straßen, keinen Baum und keinen Strauch würde Jettel je wieder sehen, nicht die geliebten Parks, in denen sie im Mai als junges Mädchen mit aufgeregt balzenden jungen Kavalieren unter blühenden Kastanien flaniert war. Der Teich mit den Linden, an dem der neunzehnjährige Walter der fünfzehnjährigen Jettel seine Liebe gestanden und Regina seit dem Umzug aus Leobschütz jeden Tag die Enten gefüttert hatten, würde nur noch einer der Mosaiksteine sein, die das Gedächtnis schikanierten. Erbarmungslos stürmten die Bilder, die Menschen, die Farben der Vergangenheit, die Klangfetzen und der Geruch von Glück und Sommerfreuden auf Jettel ein. Sie sah die Villen am Wallgraben, vor denen sie mit den Schulfreun-dinnen gestanden und Luftschlösser gebaut hatte, und obgleich sie die Augen zumachte, sah sie die vornehmen Bürgerhäuser am Ring. Im Frühjahr blühten die Apfelbäume rosa in den Gärten und weiß der Jasmin im Park. Im Herbst fielen die Kastanien auf die feuchte Erde. »Hier, steck eine in deine Manteltasche, Walter. Meine Mutter sagt, das hilft gegen Rheuma und Melancholie.« »Gott schütze deine Mutter und ihren Aberglauben. Gegen Melancholie hilft nur ein Strick.«
    Jettel stand erst am Königsplatz und dann im Zoo, wohin sie noch als Zwölfjährige mit dem Vater gegangen war -zwei Tage vor seinem Tod. »Mama, der Vater hat gesagt, nächsten Sonntag gehen wir wieder hin. Nur er und ich. Käthe interessiert sich ja nicht für Tiere, und Suse ist ihm noch zu klein. Hat er gesagt.«
    »Dein Vater soll nicht immer mehr versprechen, als er halten kann. Er geht doch sonntags immer so gern Karten spielen.«
    »Adieu Café Krone«, flüsterte Jettel. Die Tränen kamen. »Weint die Mama?«, schniefte Regina. Ihre Oberlippe zitterte. Schon rieb sie sich die Augen trocken.
    »Mamas weinen nie«, sagte ihre Großmutter. »Versprichst du mir das?«
    In den fünf Jahren ihrer Ehe war Jettel alle sechs Wochen für zwei

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