Nur die Liebe bleibt
zwei Abteile weiter einen Platz gefunden und unterhielt sich angeregt mit einem Mann in ihrem Alter. Er sah absolut so aus, als würde er es nicht dulden, dass eine Tochter von ihm mit einer schwarzhäutigen Puppe spielte, die einen bloßen Busen und einen sehr undeutschen Namen hatte. Der Mann, auch das fiel Jettel mit ihrem geschärften Instinkt für Details auf, trug das Parteiabzeichen im Revers seines Sakkos. Noch während die Kundschafterin ihrer Mutter in verschlüsselten Worten und mit Hilfe einiger französischer Vokabeln die Begebenheit erzählte, wobei sie teils schauderte und teils glucksend wie ein Backfisch lachte, protestierte Regina: »Aber ich bin nicht müde.« Zwei Minuten später schlief sie ein. Das Rütteln des Zugs schaukelte sie in den Tiefschlaf. Es war genau das, was sich ihre Großmutter und noch mehr ihre Mutter gewünscht hatten - eine Schonzeit vor den zu aufmerksamen Ohren eines zu früh reif gewordenen Kindes. Es war, das spürten sowohl die Mutter als auch die Tochter, vielleicht die letzte Gelegenheit, um miteinander zu reden, ohne dass die Bedrängnis des Abschieds die Wortwahl diktierte.
Sehnsuchtsvoll schaute Jettel zum Fenster hinaus. Sie ließ keine Minute von der kostbaren Zweisamkeit verstreichen, die ihr Reginas plötzliche Müdigkeit beschert hatte. »Ich nehme an«, sagte sie, »die Oder werde ich in diesem Leben nicht mehr sehen. Weißt du, ich hätte nie gedacht, dass mir das so viel ausmacht. Ein Fluss war für mich doch nie etwas Besonderes, halt nur Wasser mit einer Brücke drüber und Häuser am Ufer. Auf einmal kommt es mir vor, als wäre in meiner Jugend jeder Tag ein Sommertag gewesen und wir hätten in einem Ruderboot gelegen und in den Himmel geschaut, in rosa Wolken mit hellblauen Bändern. Walter konnte wunderbar rudern. Und Martin Batschinsky erst.« Noch sprach sie leise, um Regina nicht zu wecken.
»Du darfst nicht so viel über Dinge grübeln, die nicht mehr zu ändern sind«, erkannte Ina. »Das macht krank. Und unzufrieden. Wer sich zu oft nach der Vergangenheit umdreht, bekommt einen steifen Hals. Hat schon mein Onkel Willi gesagt. Und der musste es wissen. Der war ja Arzt. Du musst dir immer wieder sagen, dass nur eins wichtig ist: Du bist unterwegs zu deinem Mann und Regina zu ihrem Vater. Das ist eine Gnade, auf die eine Frau weiß Gott kein verbrieftes Recht hat. Ich war vierunddreißig, als dein Vater starb und mich mit drei Kindern zurückließ. Suse war erst vier. «
»Aber ich war zwölf«, lachte Jettel, »und eine mächtige Hilfe für dich. Jedenfalls hast du das immer gesagt.« Einen Moment glühte ihr Gesicht. Es wurde wieder jung mit dem Stolz von damals, doch die gute, besänftigende Stimmung verflüchtigte sich so rasch wie die Bäume, die sich in Dunst auflösten, kaum dass sie am Bahndamm ihr Hoffnungsgrün geflaggt hatten. Schon kehrte die Angst zurück, noch fordernder und bösartiger als zuvor. »Ach, wenn wir doch nur irgendwo in Europa leben könnten«, klagte Jettel. »Von mir aus auch in Polen oder meinetwegen sogar in Litauen oder sonst wo da unten. Vera Schlesinger ist mit ihrem Mann und den Zwillingen nach
Vilna gegangen. Hugo Schlesinger ist ja auch Jurist. Und Thea Trautmann, die in der Schule in jeder Französischarbeit eine Fünf schrieb und die selbst zu dumm war, einen Mann zu finden, hat in Frankreich eine Anstellung als Kindermädchen bekommen. Nur Walter hat mal wieder seinen Dickkopf durchgesetzt. Es musste unbedingt Afrika sein. Das ist so verdammt weit weg, so hoffnungslos weit.«
»Wer weiß, wozu es eines Tages gut ist. Es hat keinen Zweck, mit dem Schicksal zu rechten, Jettel. Das war immer Sünde. Jetzt erst recht.«
»Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das ist, durch ein ganzes Meer oder gleich mehrere von dir getrennt zu sein. Ich muss immerzu an das Gedicht von den zwei Königskindern denken. Weißt du noch, wie ich das in der Schule am Elterntag aufgesagt habe?«
»Und ob ich das weiß! Du warst die schönste von allen in deinem rosa Taftkleid. Eine dreizehnjährige Königin. Jeder Mann, der im Publikum saß, hat sich die Lippen geleckt.«
»Ach, Mutter, manchmal habe ich das Gefühl, wir werden uns nie mehr wieder sehen. In solchen Momenten will ich auch nicht mehr weitermachen.«
»Du darfst jetzt nicht weinen, Jettel. Was ist, wenn Regina wach wird? Es gibt nichts Schlimmeres für ein Kind, als die Mutter weinen zu sehen. Ich weiß genau, dass wir uns wieder sehen werden«, versprach
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