Nur die Liebe bleibt
Ina. Ihre Hände waren ruhig, die Stirn kühl. Noch nicht einmal das Herz, das sonst mit so viel Eifer den Menschen verrät, schlug schneller. Um ein Haar hätte Ina gelächelt. Es hatte sie immer verwundert, dass Kinder, die so früh mitbekommen, was um sie herum geschieht, und die vor jeder Veränderung zurückschrecken, kein Empfinden für die Notlügen einer Mutter haben. Oder wollten sie nicht merken, wie erst die Hoffnung und dann das Leben starb? Blieb ein Kind, solange es eine Mutter hatte, ein Kind, das an Wunder glaubte?
Ina wusste es nicht. Sie wusste nur eins: Wenn in drei Tagen die »Adolph Woermann« in Hamburg ablegte, war ihr Lebensmut dahin. Am 8. Januar, bei Walters Abfahrt, hatte sie den Schwiegersohn hergeben müssen, der ihr ein Sohn geworden war. Da war ihr Herz zerrissen. Ab dem 21. Juni, wenn ihr die geliebte Tochter und das Enkelkind genommen wurden, brauchte sie kein Herz mehr. Von da ab war Leben nur noch Pflicht - die Verantwortung für Käthe, ihr lebenslängliches Kind. Die Vorstellung ängstigte Ina nicht. Noch gebraucht zu werden und zur Stelle zu sein erschien ihr eine Gnade, die zur Zeit passte. Nur hatte sie noch zu lernen, für diese Gnade dankbar zu sein.
»Ich finde es wunderbar, dass wir diese Reise zusammen machen können«, schwindelte Ina weiter. »Und ausgerechnet nach Hamburg. Ganz wie in alten Zeiten, wenn wir in die Ferien nach Norderney fuhren. Oder nach Heringsdorf. Nur dass diesmal Käthe nicht über einen Fleck auf dem Kleid jammert und Suse nicht über Bauchweh, weil sie die Schokolade für alle drei in sich hineingestopft hat. Deine Schwestern waren keine sehr angenehmen Mitreisenden. Und ziemlich egoistisch. Heute kann ich das ja sagen, ohne gleich ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Mit Regina umzugehen ist die reine Freude. Das verträgliche Naturell hat sie von dir.« »Käthe war gar nicht so übel«, sagte Jettel geschmeichelt, »auch sie werde ich vermissen. Mit ihr habe ich mich nie gestritten. Es tut mir leid, dass ich ihr das nicht noch beim Abschied gesagt habe.«
»Warte nur ab. Vielleicht gelingt es Walter und dir, uns doch noch nach Afrika zu holen. Dann kannst du es ihr ja sagen, um sie willkommen zu heißen.«
Ina dankte dem Gott, dem sie nie vertraut hatte, dass Jettel sich so mühelos in die Irre führen ließ. Wie ein kleines Mädchen, das seinen Kummer vergisst, wenn man ihm ein paar bunte Glasperlen hinhält. Oder war Inas leicht zu lenkender Liebling am Ende doch klüger und reifer, als ihre Mutter ahnte? Log sie etwa auch aus Liebe?
Ina holte einen leichten Wollschal aus ihrer Reisetasche. Obwohl sie es war, die fröstelte, faltete sie ihn sorgsam zu einem kleinen Kissen, das sie unter Reginas Kopf schob. In ihr brannte der Wunsch, sie dürfte das Gleiche für Jet-tel tun, und die würde eine Weile nichts mehr hören, nichts mehr sehen und nichts mehr fühlen. Und keine Angst haben. Weder vor der Zukunft noch vor dem Abschied. Die Zeit war zu knapp bemessen, in der eine Mutter den Schlaf ihres Kindes bewachen konnte. Möchtest du das Märchen vom Schlaraffenland hören, Jettel? Ja, aber es soll nie zu Ende gehen.
»Was soll das?«, fluchte Ina. »Mitten auf der Strecke.« Der Zug hatte abrupt abgebremst, war aber sofort wieder angefahren. Inas Handkoffer war umgefallen und auf dem Tischchen am Fenster ein halb ausgetrunkener Becher mit Milch. Jettel legte den See mit ihrem durchgeweinten Taschentuch trocken. »Siehst du«, sagte sie, »auch da hat Walter unrecht. Tränen sind doch zu was nutze. Man hat immer ein Taschentuch«
»Jammerschade, dass er das nicht gehört hat.«
Ein Mann in einer weißen Kellnerjacke schob einen Wagen mit Flaschen, Kannen und Keksen den Gang entlang. Leise klirrten Gläser und Tassen. Wie zu Hause, wenn das Geschirr aus der Küche ins Esszimmer getragen wurde. Gab es überhaupt noch ein Zuhause? Zwei Abteile weiter bestellte eine Frau eine Zitronenlimonade. »Aber nicht zu süß!« Jettel erkannte die Stimme und bekam, obwohl die Luft stickig war, Gänsehaut auf beiden Armen. Regina wurde wach. Sie stöhnte und gähnte, setzte sich nach einer Weile aufrecht hin, die Hand wie ein Schutzschild vor den Augen.
»Sind wir schon in Hamburg, Oma?«
»Später, Kind. Ein bisschen Geduld musst du noch haben. Erst kommt Berlin. Schlaf noch ein bisschen. Josephine ist auch ganz müde.«
»Ist sie nicht. Kein bisschen. Immer sagst du später. Gibt es jetzt nicht mehr?«
»Na, du stellst Fragen, Kind. Für die ist
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