Nur die Liebe bleibt
deine Oma noch nicht alt genug. Da müssen wir warten, bis du so weit bist, um die Antwort zu finden.«
»Später«, sagte Regina. Sie legte sich wieder hin, faltete die Hände und murmelte den Anfang ihres Nachtgebets. Wie sie es ihrem Vater versprochen hatte. Ihre Mutter zog die Jalousien vor dem Fenster herunter. Die waren grün wie die Tannen, die in der Welt des Friedens miteinander tuschelten. Die Mischung aus Schatten und Licht im Abteil erinnerte Regina an das grüne Tuch, mit dem die Kinder zu ihrem Geburtstag Blinde Kuh gespielt hatten. Sie wollte fragen, wer nun in Leobschütz ihr Schaukelpferd fütterte und mit was, doch sie kam nicht mehr dazu. Als sie fest schlief, legte ihr die Großmutter Fips, der seit dem Bremsmanöver unter dem Sitz lag, in den Arm. Im Abteil ging der Tag zur Neige, ehe die Zeit dazu gekommen war. Die Sonne auf den Sommerwiesen und über den Bächen schien nur für die, zu denen die Gespenster nicht kamen.
Ina und Jettel versprachen einander, nur nach vorwärts zu schauen und nicht mehr von der Vergangenheit zu sprechen. Ina schaffte es, die Augen zu schließen, aber statt dass der Tröster Schlaf zu ihr kam, bohrten sich die Erinnerungen wie heiße Nadeln in ihr Bewusstsein. Käthe und Jettel trugen zum ersten Mal ihre neuen weißen Matrosenkleider mit den weiten Röcken. Marineblaue Streifen säumten die breiten Krägen. Beide Mädchen hatten pechschwarze Ringellocken, große weiße Haarschleifen und, wenn sie lachten, Grübchen. Sie lachten immerzu, und ihr Lachen war so ansteckend wie Masern. Das sagten alle. Selbst die kecken kleinen Buben, die ihre Kindermädchen zur Verzweiflung trieben, rissen sich darum, für Jettel und Käthe das Handtuch und den Schläger für das Federballspiel zu tragen. Beim gemeinsamen Mittagsmahl an der Table d’hôte wurden die Perlsmädels von silberhaarigen, sehr vornehmen Damen mit kleinen Geschenken und teurem Zuckerwerk verwöhnt. Bei Spaziergängen und am Strand wurden sie von jungen Männern mit Komplimenten bedacht, für die sie zwar reif genug, aber noch nicht alt genug waren. Ina nannten alle im Hotel »die lustige Witwe«. Sie war es auch, sah aus wie die Schwester ihrer Töchter und war immer vergnügt. Sowohl Norderney als auch Heringsdorf waren unter den ersten deutschen Bädern, die mit Stolz verkündeten, sie wären »judenrein«. Ina grübelte, ob das in Leobschütz in den Zeitungen gestanden hatte.
Ein Mann stand in der Tür. Groß und unbeweglich, eine dunkle Silhouette im diffusen Licht. Jettel und Ina wurden im gleichen Moment gewahr, dass er Uniform trug. Sie wurden bleich und klein, und beide hielten sie ihre Hände vor das schlafende Kind. Als könnten Frauenhände schützen!
»Heil Hitler, guten Tag die Damen«, rief der Schaffner in die Angst hinein. Nach einer Weile sagte er: »Personalwechsel.« Seine Stimme war laut. Sie klang grob, doch er war es nicht. Er war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, hatte den Krieg überstanden und schon am dritten Tag den Tod seines Jugendfreundes. Zu Hause hatte er eine zänkische Frau und einen Sohn, der nie für sich selbst würde sorgen können. Dessen Vater ließ sich nicht beirren. Alle zwei Wochen ging er zur Beichte, denn er glaubte noch immer an Gott und dass der gerecht war. Freundlich war dieser Schaffner mit dem Berliner Zungenschlag, als er sich die Fahrausweise zeigen ließ. Er sah, dass nur Ina eine Rückfahrkarte hatte, die junge Mutter und das Kind aber nicht. In solchen Fällen war er seit Beginn der neuen Zeit angehalten, auf die Freundlichkeit und die persönlichen Bemerkungen, die bei Reisenden in der zweiten Klasse üblich waren, zu verzichten. Aus einem Grund, den er sich trotz Führertreue und Gehorsam nicht erklären konnte, gelang ihm das allerdings nicht immer. Ihm fiel auf, dass Jettels Augen gerötet waren, und er wusste Bescheid. Es war ihm nicht angenehm, dass er es wusste.
Trotzdem staunte er ein wenig, als er sich sagen hörte: »Alles Gute für Hamburg. Sie haben’s bald geschafft. Seien Sie froh. Und lassen Sie sich nicht irremachen. In Berlin halten wir an den Haltestellen Berlin Ostbahnhof und Zoologischer Garten. Ich glaube nicht, dass noch viele zusteigen.« Er verabschiedete sich nur mit dem »Danke und eine gute Reise noch«, das bei der Reichsbahn vor 1933 für alle Reisenden üblich gewesen war. Auf das »Heil Hitler« verzichtete er.
Danach war das Schweigen im Abteil schwer und schwarz. Ina beugte sich nach vorn. »Jettel«, flüsterte
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