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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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selbst verpackt - als Überraschung für Walter in alte, eigens dafür gesammelte Ausgaben der »Berliner Illustrirten«.
    Als der nichts ahnende Mister Silverstone an den Schauplatz des Geschehens zurückkehrte, schluchzten Mutter und Tochter im Chor. Eng umschlungen saßen sie auf der Reisetasche, aus der der Schwanz vom Plüschaffen heraushing und für einen Moment selbst den nervenstarken Mister Silverstone zu einer schier unglaublichen Assoziation trieb. In regelmäßigen Abständen unterbrach Jettel ihr Wehklagen. In solchen Atempausen deutete sie mit ihrem Zeigefinger ins Leere und stellte einem Afrikaner in Khakiuniform und olivgrünen Kniestrümpfen, der sie so wohlwollend anlächelte, als hätte sie ihm soeben ihre Liebe gestanden, immer wieder die gleiche Frage. »Wie soll ich nachmittags den Kaffee servieren, wenn ich keinen Teewagen mehr habe?«, jammerte sie.
    Der freundliche Mann kratzte sich an der Nase, zeigte mit der anderen Hand auf Regina und nannte sie Toto.
    »Die vierte Box ist nicht da. Ich muss sofort Ihren Chef sprechen«, schrie Jettel, »auf der Stelle.«
    Obwohl Silverstone klar war, dass sie nicht Englisch konnte, war ihm der Umstand, dass sie vor den Angestellten des britischen Zolls Deutsch sprach, noch peinlicher als das Geschrei selbst. Jettels Gesicht, ihr Hals und die Arme waren feuerrot. Sie wirkte, als würde sie sich kaum auf den Beinen halten können, atmete stoßweise und ballte beide Hände zur Faust. Silverstone überlegte, ob er einen Arzt holen sollte und welchem der drei europäischen Ärzten, die in Mombasa praktizierten, er eine Deutsch lamentierende Frau mit einem wahrscheinlich typisch kontinentalen Nervenzusammenbruch zumuten könnte. Charly Paine, seinem eigenen Arzt, bestimmt nicht! Das würde eine Animosität fürs Leben geben und ein Desaster, wenn der kleine Samuel nachts eine seiner Koliken bekam. Immerhin war der Kleine ja mitten in einer Keuchhustenschlacht. Silverstone dachte an seine Frau und an seinen Sohn und dass er, der schlaue, von seinen Freunden und Kunden hoch geschätzte Abraham Aron Silverstone, sich bislang viel zu wenig mit seinen Glaubensbrüdern vom Kontinent beschäftigt hatte. Was trieb die plötzlich in Scharen nach
    Kenia? Was war tatsächlich im alten Europa los? Wahrscheinlich der Teufel.
    Unsicher streckte der junge Vater seinen Arm aus und berührte Reginas Schulter. Wenigstens das Kind wollte er beruhigen, doch dieses spezielle Kind hatte ebenso viel Angst vor fremden Menschen wie vor Hunden, Hitlerjungen und Schneidern in roten Hosen, die mit großen Scheren in die Stube sprangen und daumenlutschenden Kinder die Daumen abschnitten. Seit dem Verlust ihrer vertrauten Umgebung geriet Regina in Panik, sobald sich nur ein fremder Arm auf sie zubewegte. Kaum lag Sil-verstones Hand auf ihrem Kopf, fing sie an zu brüllen wie ein Geschöpf in Todesnot. »Wo ist meine Oma?«, jammerte sie. »Ich will zu meiner Oma. Ich will wieder nach Leobschütz zu meinem Schaukelpferd.«
    Es gab kaum einen im Raum, den Reginas Angstschreie nicht verstörten. Einige liefen auf das Kind zu, andere schüttelten den Kopf und schauten anklagend auf Silverstone. Sein Gesicht war feuerrot. Verlegen steckte er seine Hände in die Tasche. Er starrte auf den Boden und wünschte sich, er könnte Deutsch - wenigstens für zwei Minuten! Jettel aber hörte auf der Stelle auf zu weinen. Als wäre sie nur einen Moment unpässlich gewesen und hätte sich kurz hinsetzen müssen, sprang sie von der Reisetasche hoch. Mit ihrem zartvioletten Spitzentaschentuch, das den Mann vom Zoll dazu brachte, bewundernd zu pfeifen und dreimal »Misuri« zu murmeln, wischte sie das Gesicht ihrer zitternden Tochter trocken. Sie drückte sie an sich, nahm sie wie ein Baby hoch und bedeckte das bleiche, nasse Kindergesicht mit Küssen. »Wir fahren doch zum Papa«, tröstete Jettel. »Was meinst du, wie erschrocken der ist, wenn er sieht, dass du ge-weint hast. Du willst ihn doch nicht traurig machen. Er freut sich doch so auf dich.«
    Noch Jahre später glühten Jettels Wangen, wenn sie an dieser Stelle ihrer Erinnerungen von der wundersamen Begegnung mit Gerd Freimann berichtete. Den jungen Mann, der so unerwartet und im genau richtigen Augenblick die Bühne ihres Lebens betrat, kannte sie flüchtig von der »Adolph Woermann«. Er sah Willy Fritsch ähnlich, und offenbar war es ihm ebenso leicht wie dem beliebten Filmschauspieler, am laufenden Band Frauenherzen zu brechen und doch mit

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