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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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auf.
    Die Details, soweit sie sich rekonstruieren ließen, wurden mit Hilfe eines schreibkundigen Angestellten aktenkundig gemacht und von amtlicher Seite mit der Zusage bedacht, ein eventuelles Auftauchen der Kiste unverzüglich nach Rongai zu melden. Einen Moment sah es ganz nach einem befriedigenden Finale aus, doch schon einige Sekunden später wurde evident, dass es selbst an der lichten Person des sympathischen Herrn Freimann eine winzige Schattenseite gab. Er war ein Kavalier, der Dankesworte scheute. So tauchte er in der Menschenmenge unter, ehe Jettel ihm für seine Ritterlichkeit danken durfte. Abermals fühlte sie sich vom Schicksal hintergangen, doch diesmal stoppte sie den Tränenfluss, ehe die Dämme brachen. »Der Mann war ein Engel«, schniefte sie.
    »Er hat aber keine Flügel gehabt«, bemerkte die kritische Tochter.
    »Du bist genau wie dein Vater«, erkannte die Mutter. »Magst du meinen Papa nicht?«, erkundigte sich Regina. An Bord der »Adolph Woermann« sahen die Passagiere, die ihre Fahrt »rund um Afrika« fortsetzten, erst das berühmte Fort Jesus, das steinerne Zeugnis der Geschichte, und danach die Küste von Mombasa verschwinden; einige sprachen aus, was viele dachten. »Erst ohne das Auswanderervolk«, formulierte es ein pensionierter Stadtrat aus Hildesheim, dessen Feinsinnigkeit allgemein geschätzt wurde, »setzt für uns die wirkliche Erholung ein.« Es war die letzte Stunde des Tages. Die Seemöwen hockten auf Pfählen und putzten ihr Gefieder. In den BaobabBäumen wurden die freundlichen Geister wach, die seit Äonen in ihnen wohnten. Mit geblähten Segeln strebten die Dhaus in den Hafen.
    Abraham Silverstone gedachte des morgendlichen Erdbebens mit dem Behagen eines Mannes, der ein großes Pensum mit Bravour bewältigt hat. Trotzdem grübelte er, wie lange er wohl noch am Bahnhof vor einem Zugfenster auszuharren vermochte, ohne dass er seine Contenance verlor und seine Erziehung verleugnete. Als der strapazierte Samariter die Hoffnung aufgab, der Zug, den Jettel und Regina auf sein Drängen bereits vor einer halben Stunde bestiegen hatten, würde noch bei Tageslicht den Bahnhof von Mombasa verlassen, startete die Lokomotive - völlig unerwartet und so laut und ruckartig, als würde der letzte Waggon von einem Armeetank angeschoben. Der Bahnhofsvorsteher kam noch nicht einmal dazu, seine Trillerpfeife in den Mund zu stecken. Die zwei barfüßigen Männer, die sonst mit weißen Fahnen wedelten, um die Gleise frei zu machen und das Ansehen der Lokomotivführer zu betonen, fanden noch nicht einmal die Zeit, das wieder aufgetauchte Perlhuhn von den Schienen zu scheuchen. Es flatterte im letztmöglichen Moment in ein rettendes Maulbeergebüsch und stellte sich tot. Der sandfarbene Hund mit eineinhalb Ohren, dem zum zweiten Mal an diesem jagdfeindlichen Tag die Beute entgangen war, kniff den Schwanz ein und schlich mit hängendem Kopf einen Hügel hinunter. Immer noch optimistisch stellte sich die kahlköpfige Bettlerin an ihrer alten Kampfstätte ein, die linke Hand geöffnet, die rechte an der Stirn. Silverstone vertrieb sie mit einer eher halbherzigen Bewegung. Um ein Haar hätte er gar den Moment der Erlösung verpasst. Es gelang ihm gerade noch »Goodbye, Misses Redlich« auszurufen. Dass er Haltung annahm und salutierte, sahen lediglich die Reisenden in den letzten zwei Waggons. Es handelte sich ausschließlich um Menschen, die von den Briten als die »bloody natives« bezeichnet wurden. Die konnten noch nicht einmal mutmaßen, weshalb ein britischer Gentleman ins Leere salutierte, doch johlten sie Beifall. Der weiße Rauch der Lokomotive kringelte sich in den Abendhimmel.
    »Du lieber Himmel«, seufzte Silverstone, »warum können die Leute nicht daheimbleiben, wo sie sich auskennen?« Er schämte sich, als ihm aufging, wie herzlos ein solcher Gedanke für einen Mann war, den die aufrechten, erfahrenen Herren vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde und vielleicht gar Gott selbst mit der Aufgabe der Nächstenliebe betraut hatten. Mit einem schrillen Pfiff rief er die Bettlerin zu sich. Obwohl die Frau annahm, der Pfiff hätte dem Hund gegolten, kam sie doch zurück. Silverstone warf ihr ein Fünzigcentstück zu. Sie sagte erst einige Worte in ihrer Sprache, dann einen ganzen Satz. Hätte Abraham Silverstone Kikuyu verstanden, hätte er begriffen, dass besitzlose Menschen zwar gezwungen sind, Almosen anzunehmen, dass sie jedoch nicht gezwungen werden können, ihre Würde zu verkaufen.

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