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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Ohr für Jiddisch, hatte sich bereits als Kind einzelne Worte und ganze Redewendungen gemerkt und seine Kenntnisse aufgefrischt, als ihm der Bedarf der neuen Zeit aufging. Die Juden aus Deutschland sagten zwar öfters mal »Nebbich«, doch sonst war ihnen Jiddisch so fremd wie Englisch oder Suaheli. Wenn sie von Silverstone in der Sprache des Ostens angesprochen wurden, reagierten sie mit gekränkten Gesichtern und fuhren fort, sich Notizen in kleine schwarze Hefte zu machen. Silverstone kam nie dahinter, was sie aufschrieben.
    Die Sonne verfärbte sich, die Wolken wurden grau. Das Perlhuhn, der Hund und der Bahnhofsvorsteher waren verschwunden. Ein Schrankkoffer wurde von zwei stöh-nenden Männern zum Zug geschoben. Ein dünne weiße Rauchsäule stieg von der Lokomotive hoch. Die Bettlerin, die sich zu den Reisenden der eigenen Hautfarbe verzogen hatte, wurde von einem Mann in Uniform in den Rücken geboxt und brüllte wehrhaft. Silverstone grübelte, wie er Jettel klarmachen konnte, dass sie nicht bis zur Abfahrt des Zuges am Fenster zu stehen brauchte, aber ihm fiel noch nicht einmal eine passende Geste ein. Er seufzte sehr und tat so, als hätte er ein bisschen gehustet. »Jetzt geht es bald los«, sagte er und deutete mit einer Bewegung, die ihm allerdings reichlich verfrüht erschien, in Richtung der Lokomotive. Bei Abendzügen wie dem nach Nairobi war es nicht die Frage, ob sie verspätet abfuhren, sondern mit wie viel Verspätung sie es taten. Eingehende Untersuchungen der Kolonialbehörden, weshalb das so war und wie man den Hang des Personals abstellen konnte, sich verspätet am Arbeitsplatz einzufinden, hatten bisher keine brauchbaren Ergebnisse gebracht. Der Lokomotivführer saß vor seiner Lokomotive, säuberte seine Nägel mit einer Gabel und seine Zähne, indem er eine weiße Wurzel kaute.
    »Wo ist Oma?«, fragte Regina.
    »Oma will nicht, dass du weinst. Das hast du ihr doch versprochen, Kind.«
    »Sie sieht mich ja nicht.«
    Um wenigstens eine Atempause lang keine Aufmerksamkeit vortäuschen zu müssen, blätterte Silverstone in seinem Taschenkalender. Erleichtert stellte er fest, dass das nächste Schiff aus Europa frühestens in fünf Wochen fällig war; er wurde fast so optimistisch wie sonst auch. Wer vermochte schon zu sagen, ob sich bis dahin die Zustände in Deutschland und Österreich und auch im verdammten Rest der Welt nicht zum Besseren verändert hätten und die Leute wohl dann nicht mehr in Mombasa einfallen würden, als wäre Kenia das gelobte Land.
    »Are you okay?«, fragte er zum offenen Zugfenster hinein.
    Gewöhnlich hatte der junge Familienvater viel Freude an dem Gedanken, dass er Menschen, die sich nicht selbst zu helfen wussten, eine gute Tat erweisen konnte. Das Ganze erinnerte ihn an seine Pfadfinderzeit. Abraham Silverstone war ein begeisterter Pfadfinder gewesen, allzeit bereit, Menschen aus brennenden Häusern und vor hungrigen Geparden zu retten. Die Uniform hing noch in seinem Schrank, eine Ehrenurkunde für außergewöhnliche Leistungen beim Spurenlesen in einem Holzrahmen an der Wand des Esszimmers. Wenn er seine Proteges zum Zug brachte, machten nach Silverstones Dafürhalten die meisten einen wohltuend zufriedenen Eindruck. Auch wenn sie es mangels Sprachkenntnissen nicht ausdrücken konnten, war ihnen ihre Dankbarkeit anzumerken. Einmal hatte eine alte Frau Silverstone sogar die Hand geküsst.
    Dem hilfswilligen jungen Mann war klar, dass Jettel Redlich das nicht tun würde. Es hatte zu viele Missverständnisse und Begegnungen der unangenehmen Art gegeben. Zum Glück für die Flüchtlinge, die Jettel folgen sollten, ging Silverstone im Rückblick auf das Tagesgeschehen dann aber doch dazu über, die Dinge in einem etwas milderen Licht zu sehen. Wahrscheinlich war die junge Deutsche noch nicht einmal von Grund auf undankbar, vielleicht auch nicht so anspruchsvoll, wie er gedacht hatte, doch nach seiner Einschätzung war sie absolut unbrauchbar für die Anforderungen des täglichen Lebens in
    Kenia. »Nervös wie ein durchgegangenes Pferd und ängstlich wie ein Muttersöhnchen, das in der ersten Nacht im Internat sein Kissen nass heult«, berichtete er seiner Frau zwischen Avocadosalat und Fischpastete. Sein Schützling, diagnostizierte der einstige Pfadfinder mit dem mäkelnden Blick der Jugend, war eine Frau, die einen Mann dazu bringen konnte, sich jedes Haar einzeln auszuraufen. Schon die ersten vier Stunden in Jettels Diensten waren Silverstone, der trotz

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