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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Jettel, Regina, Josephine und der aus der Reisetasche endlich befreite Fips saßen im dritten Wagen - in der weich gepolsterten Klasse für die selbstbewusste, reisende Elite der Kolonie. Auf den Sitzen lagen kleine Kissen in weißen Leinenüberzügen, zwei grün-gelb karierte Reiseplaids und ein gestärktes Handtuch, dem ein Duft von Heu entströmte. Auf dem Klapptisch am Fenster standen zwei leere Tassen aus hauchdünnem Porzellan, zwei hohe Gläser, eine grüne Flasche mit der Aufschrift »Rose’s Lime Juice«, eine mit Wasser gefüllte Karaffe und eine Taschenlampe. Auf dem Sitz an der Tür lag eine Zeitschrift mit dem Bild einer schwarz gekleideten Reiterin auf einem Schimmel. Der Luxus des Reisens war Pflicht. »Auch arme Schlucker, wie wir es sind, müssen sich daran halten, dass es für Europäer standeswidrig ist, mit den Schwarzen in der dritten Klasse zu fahren«, hatte Walter in seinem letzten Brief geschrieben.
    Mutter und Kind waren erschöpft und verschwitzt, verwirrt von den Eindrücken und Aufregungen der Ankunft, gebeutelt von der einkesselnden Hitze und der drückenden Schwüle in Mombasa. Das ungewohnte Mittagessen rumorte in Jettels Magen, in ihren Schläfen pochte Panik. Die vertrockneten Dornakazien und das von der Sonne versengte Gestrüpp, Hütten mit runden Grasdächern und abgeerntete Felder, Menschen und dürres Vieh verschwanden im Abendgrau. Bald verschlang ein schwarzer Nebel Landschaft und Kreatur. Ein in solcher Intensität noch nie empfundenes Verlangen, nach Hilfe zu rufen, zerriss Jettels Brust. Laut schreien wollte sie, sich fallen lassen in die Unendlichkeit, einschlafen und nie mehr aufwachen. Und doch gelang es ihr, von der das Leben noch nie Disziplin und Initiative eingefordert hatte, sich von der klammernden Sehnsucht frei zu machen, aus der fremden, neuen Wirklichkeit zu fliehen. Mit einer Plötzlichkeit, die wie ein grollender Felsbrocken auf sie zustürzte, wurde Jettel klar, dass selbst dann niemand von ihr Kenntnis nehmen und dass die Welt sich weiterdrehen würde, wenn sie sich aus dem Zug stürzte. Nur einen Moment noch wollte sie ihre Augen zumachen, von Butterblumen und Sommertagen an der Oder träumen, sich vorstellen, sie wäre zu Hause, geborgen und behütet, wieder die geliebte, verwöhnte Lieblingstochter. Sie hielt ihre Hände vors Gesicht. Aus der Ferne hörte sie Regina entsetzt »Mama« rufen. In dem Bruchteil von Vergangenheit, der ihr noch blieb, schlug Jettels Herz Jubel. Sie sah ihre Mutter. Im weißen Leinenkostüm, mit einem Strauß von frischen Veilchen am Revers. Die Perlenkette schimmerte rosa.
    »Mama«, fragte Regina, »schläfst du?«
    »Aber nein.«
    »Dann bist du tot.«
    »Was du dir alles ausdenkst. Ich habe mich nur ausgeruht und einen Moment an unser Schiff gedacht.«
    »An den Mann, der ins Wasser gesprungen ist?«, fragte Regina mit dem Eifer derer, die schon als Kind üben, nichts zu vergessen. »Der arme Engel mit meinem schönen weißen Hut.«
    Ein weißhaariger Mann, den kaum einer näher kennengelernt und der seine Nächte meistens an Deck verbracht hatte, hatte sich im Morgengrauen in den Tod gestürzt. Kurz vor Tanger. Man erzählte sich, der Mann sei ein bekannter Schauspieler gewesen; er hätte den Gedanken nicht ertragen können, nie mehr auf der Bühne zu stehen. Das Schiff hatte, wie es die Vorschrift gebot, einen Tag umkehren müssen, um nach der Leiche zu suchen. Am dritten Tag nach der Tragödie berichtete ein Juwelier, den man in Baden-Baden mit einem Schild um den Hals durch die Hauptstraße getrieben hatte, der Selbstmörder sei im Hamlet-Kostüm und mit einer goldenen Königskrone auf dem Kopf ins tobende Meer gesprungen. Regina wusste es besser. Am Unglückstag, genau um elf Uhr sieben, riss ihr ein Sturmwind den weißen Leinenhut aus Breslau vom Kopf. Der Gedanke, dass der bedauernswerte Selbstmörder im Himmel mit ihrem teuren Hut eintreffen und von Gott mit Marzipanbroten und Nougatkugeln empfangen werden würde, tat ihr noch wohl, als sie starke Zweifel an der Existenz von himmlischen Heerscharen zu entwickeln begann.
    »Mir hat es auf der >Adolf Woermann< gut gefallen«, sagte sie.
    »Mir auch«, erwiderte Jettel, »da konnte man wenigstens immer mit jemandem reden.«
    Nun würgte Jettel das Gefühl, alle hätten sie verlassen. In solchen Momenten der Verzweiflung gab es für sie keine Farben mehr, keine Zukunft, keine Hoffnung, nur noch die Straßen von Breslau und das Gesicht ihrer Mutter. Die Sehnsucht nach

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