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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Verantwortung, ohne Zukunft und ohne Angst.
    Am Nachthimmel badeten Afrikas Sterne. Goldene Fülle auf schwarzem Samt. Doch keine einzige Sternschuppe regnete herab, um den Wunsch von Jettel Redlich aus der Breslauer Goethestraße zu erfüllen. Die hatte sich im Dschungel Afrika verirrt und rief nach ihrer Mutter. Ein kupferner Gong wurde geschlagen. Es war ein tiefer, beruhigender, lockender Klang. Kam er aus dem Speisewagen oder aus einer Vergangenheit, in der wohlerzogene Kavaliere junge Frauen in rosa und violett changierenden Seidenkleidern zum Tanz baten?
    »Ich schenke dir mein Herz«, versprach Martin Bat-schinsky.
    »Glaub ihm nicht«, warnte Walter, »er hat sein Lebtag nichts verschenkt.«
    »Du bist ja nur eifersüchtig«, lachte Jettel. Sie fächelte sich Luft zu und schüttelte den Kopf, damit die langen Ohrringe klimperten. Wie die von Carmen.
    »Ich habe Durst«, mahnte Regina, »und Fips hat gesagt, dass er Bauchweh hat. Ganz schlimmes Bauchweh. Ich glaub, der wird gleich kotzen.«
    Nach den prägenden Erfahrungen der letzten fünf Wochen war Jettel klar, was die Uhr geschlagen hatte, wenn Fips übel war. Sie wusste, dass ihr dann allerhöchstens zwei Minuten blieben, um entweder die Nerven ihrer Tochter zu beruhigen oder ihr ein Taschentuch vor den Mund zu halten. Regina hielt ihren leidenden Affen hoch. Der Gepeinigte krümmte sich über ihrem Kopf. Wer das Gras wachsen hörte, vernahm der Menschheit ganzen Jammer. Und doch war es just auf dem Höhepunkt dieser kaum noch zu entkommenden Katastrophe, dass Regina dem Schicksal Einhalt gebot. Mit ihren fünf Jahren und zehn Monaten fasste sie einen für ihr Alter sehr atypischen Entschluss. Zu erklären war dieser nur mit dem ungewöhnlichen Verständnis und der unendlichen Liebe, die ein Kind in der Emigration für die entwickelt, die ihm bleiben.
    Einen Augenblick, der nicht länger währte als ein Lidschlag, war es Regina, als müsste sie ihre Mutter beschützen. Sie war die Mutter und ihre Mutter ein verzagtes, hilfloses kleines Mädchen, das ermutigt werden musste, das Zärtlichkeit brauchte und die Zuversicht, es werde allzeit umsorgt und behütet. Fips, der seine Familie eben noch mit lebenslangem Siechtum bedroht hatte, wurde - ein wenig ungeduldig und ebenso unsanft
    - auf die Hutschachtel geworfen. Schon in der nächsten Kurve stürzte er zu Boden und blieb auf seinem freundlichen Affengesicht liegen, aber Regina beachtete ihn nicht. Sie griff nach Jettels Hand. »Zu kalt«, monierte sie streng. Sie beugte sich über den Ring mit einer Platte aus schwarzem Onyx, drückte ihren Zeigefinger auf die große Perle in der Mitte und atmete schwer, doch dieses eine Mal sagte sie nichts. Vor sechs Wochen hatte ihre Großmutter noch den Ring getragen.
    Obwohl Jettel nie erfahren würde, was geschehen war, bat sie ihre Tochter um Beistand: »Regina, du musst jetzt zeigen, dass du ganz tapfer bist. Wie du es zu Hause dem Papa versprochen hast. Deine Mutter kann dir hier im Zug nichts zu trinken kaufen. Die ist zu dumm, um auch nur ein Wort mit den Menschen in Afrika zu reden. Sie ist zu dumm, um ihrem Kind ein Glas Wasser zu bestellen.« »Meine Mutter«, empörte sich Regina, »ist überhaupt nicht dumm. Das hat auch meine Oma gesagt. Und mir ist es ganz egal, ob der blöde Fips Bauchweh hat. Er ist selbst schuld. Ich hab ihm doch die ganze Zeit beim Mittagessen gesagt, er soll nicht so viele Erbsen fressen.« Jettel war gerade dabei, sich in eine Erleichterung fallen zu lassen, die so weich und wohltuend war wie das teuerste Plumeau aus der Bettenabteilung von Wertheim in Breslau. Da sagte diese wundersame Tochter plötzlich und mit einer neuen Weichheit in der Stimme »Jambo«. Das schöne Zauberwort, das Regina in der Zollhalle gelernt hatte, war wie Honig. Es kitzelte auf der Zunge und tropfte ins Ohr.
    »Jambo«, kam das Echo. Ein Kellner vom Speisewagen, weiß gewandet, mit rotem Fes und schwarzer Bommel obenauf, stand in der Tür. Er hielt ein silbern glänzendes Tablett, auf dem eine dickbäuchige Teekanne thronte, daneben ein kleiner weißer Porzellankrug und zwei Schälchen, eines mit weißem Zucker, das zweite mit braunem. Auf einem Glasteller lagen zwei Stück Rosinenkuchen, quittegelb glänzend, und runde Kekse mit einem Loch in der Mitte. Es roch nach Zimt und Ingwer im Abteil. Der Mann trug Sandalen, die aus einem alten Autoreifen geschnitten waren. Die Khakihose unter seinem langen Servierhemd war zerfranst. Wann immer er lachte,

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