Nur die Liebe bleibt
Sie erzählte Fips unartige Witze, die sie von ihrem Vater gelernt hatte. Die gelehrige Tochter mit dem guten Gedächtnis nahm sich vor, keine Minute von den Freuden in einem rollenden Bett durch Schlaf zu vertun. Nach fünf Minuten schlief sie ein. Ihre regelmäßigen Atemzüge nahmen Jettel die Ängste von Monaten. Sie träumte weder von Breslau noch von Peinigern in Uniform.
Regina wurde im Morgengrauen wach. Sie hatte schon angesetzt, ihre Mutter zu wecken, als ihr auffiel, dass der Zug sich nicht mehr bewegte und ihr neuer Freund, der Herrscher über die grüne Götterspeise, im Abteil stand. Er legte den Finger auf seine Lippen, zog den Vorhang zurück und deutete in den beginnenden Tag. »Nugu«, flüsterte er. Regina erinnerte sich an das schöne Wort. Kichernd nahm sie Fips in den Arm, doch der Kellner schüttelte den Kopf, zeigte in den Tag, in die neue Welt, in eine Weite, die unendlich war.
Der Zug hatte nicht an einer Station gehalten, sondern auf offener Strecke. Die Felsen waren noch nachtschwarz, auch dunkel die Silhouetten der Dornakazien, aber das Leben schon auf dem Weg in den Tag. »Nugu«, wiederholte der Götterspeisenkönig. Beim zweiten Mal entdeckten Reginas Augen, was die seinen sahen: eine Herde von Pavianen, die Säuglinge unter dem Bauch der Mutter, die Halbwüchsigen miteinander balgend. Die Alten schritten gemessen ins Morgengrauen.
»Heia Safari«, wisperte der Askari, der nicht vergessen mochte.
Regina drückte seine Hand. Ihr Kopf berührte sein Knie. Ehe der Zug in Nairobi einfuhr, hatte sie gelernt, dass die Menschen in Kenia eine Giraffe Twiga und ein Zebra
Punda milia nennen. Sie wusste, dass Afrikas Sonne wie ein glühender Ball am Himmel brennt und dass Vögel, die auf Dornakazien hocken, morgens in feuerrotem Licht baden. Nur eines wusste sie freilich noch nicht: Der als Kellner verkleidete Magier hatte auf der Strecke zwischen Mombasa und Nairobi einen Samen in ihr Herz gepflanzt. Aus ihm sollte eine lebenslange Liebe werden - die Liebe zu Afrika.
Eine Königin kehrt heim
Nakuru-Ol’ Joro Orok, 17. Dezember 1941
Am 17. Dezember 1941 warnte Radio Nairobi vor Buschfeuern in der Rift Valley. In Nakuru dampfte die Luft, die Hitze machte schon bei Sonnenaufgang Hunde schläfrig und die Vögel stumm. Der stechende Geruch vom See reiste bis nach Gilgil. Die Flamingos hatten ihre Farbe verloren. Sie waren zu erschöpft, um ihre Flügel zu spannen. Aber für die neunjährige Regina Redlich von der Gibson-Farm in Ol’ Joro Orok war dieser Tag einer von grenzenloser Freiheit, Jubel und Glück - der schönste seit drei Monaten, zwei Tagen und vierzehn Stunden. Jede Stunde hatte sie gezählt und abends die Vergänglichkeit mit Strichen in dem kleinen Kalender dokumentiert, den ihr Vater für sie aus den hellbraunen Karteikarten für die Arbeiter auf den Schambas gebastelt hatte. Die 250 Schülerinnen und 203 Schüler der Nakuru Government School hatten diesen Tag der Tage herbeigesehnt wie jedes Tier und jede Pflanze die bevorstehende Regenzeit. Wunschfeen und Zauberer und Mungu, den Gott ihrer Heimat, hatte Regina angefleht, die Zeit mit Siebenmeilenstiefeln auszustatten und den Tagen das Fliegen zu lehren. Nun war es endlich geschehen. Aufmerksame Beobachter wussten zu berichten, dass beim letzten Frühstück in Knechtschaft elf von den dreizehn
Lehrerinnen und drei der fünf männlichen Pädagogen dabei beobachtet worden waren, dass sie in ihren Por-ridgeteller gelächelt haben. Die in der ganzen Schule gefürchtete Miss Scriver habe versehentlich Zucker auf ihr Spiegelei gestreut und so unüberhörbar geflucht, dass sie sich eigentlich selbst aus dem Frühstücksraum hätte schicken müssen.
Das Weihnachtssemester, aus organisatorischen Gründen zwei Tage länger als die beiden anderen, war abgeschlossen, vorbei, nur noch eine Erinnerung. Vor den Zöglingen der Nakuru School lagen vierunddreißig angstfreie Tage ohne Rohrstock und ohne Repressalien. Keine kalten Bäder am Morgen, kein Dauerlauf um das Hockeyfeld und kein Stubendienst. Nun stand das Tor zu einem immergrünen Paradies offen. Es war eigens für Kinder geschaffen worden, denen in einem Internat Wissen eingetrichtert wurde, für das sich die Mehrheit von ihnen nicht interessierte.
Am letzten Tag aber waren diese Kinder frei wie die Adler am Himmel und stark wie die Löwen in den Bergen. Ohne dass eine Respektsperson auch nur die Stirn runzelte, durften die Glücklichen aus jeder Ecke der Schule ihr
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