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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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ihrem Mann erstarb, und mit jedem Bild, das sie beschwor, witterte Jettel Unheil für Regina. Wie sollte sie ein Kind, das alles mitbekam und nichts vergaß, in ein Leben ohne Angst zurückführen? Im Abteil ging mattes gelbes Licht an. Ein Schatten schwankte an der Tür. Waren es Kochstellen, die draußen vor den Hütten leuchteten, oder Höllenfeuer? Auch Regina sah den roten Schein. Auch sie war eine Mutter. Beschützend drückte sie die Puppe Josephine und Fips an sich. Im Flüsterton erzählte sie ihnen das Märchen vom Brüderchen, das ein Reh wurde, und von seinem aufopfernden Schwesterchen, das nicht von seiner Seite wich.
    »Warum bin ich kein Reh?«, fragte Regina.
    Am Türrahmen klebte eine tote Fliege. Ihr Blut war noch nicht eingetrocknet. Jettel hatte ihrer Lebtag keine tote Fliege an einer Wand kleben sehen. Verstört überlegte sie, ob es außer Riesenfliegen in Afrika noch anderes Getier gab. Plagen wie in der Bibel. Sie versuchte, sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn ein Skorpion oder eine Spinne ins Abteil gelangte. Oder eine Maus. Vielleicht gar eine Schlange. Schlangen gab es auf alle Fälle in Afrika. Das hatte Walter ja aus Rongai geschrieben. Sein Koch Owuor hatte eine tot geschlagen. Nein, zwei. Wie sollte eine Mutter ohne einen Koch ihr Kind vor einer Schlange retten?
    »Du zitterst ja«, wunderte sich Regina. »Mir ist überhaupt nicht kalt. Und Josephine schwitzt.«
    »Jetzt schwitze ich auch«, seufzte Jettel.
    Sie hätte gern wenigstens ihre schwere Handtasche auf den Boden gestellt, doch obgleich sie nirgendwo einen Menschen erblickte und keinen Ton hörte, wagte sie es nicht. Silverstone hatte ihr beim Mittagessen im Hotel ein Couvert mit der Landeswährung zugesteckt. Ihr war das quälend peinlich gewesen. Wie eine Bettlerin war sie sich vorgekommen, doch nun war ihr klar, dass das Keniageld ihr wichtigster Besitz war, wichtiger als Hutschachtel, Seidentücher und alle Kleider. Mindestens so wichtig wie die Familiendokumente im kleinen braunen Lederkoffer. Vor dem Moment aber, da sie das Geld brauchen würde, graute Jettel fast noch mehr als vor Spinnen und Mäusen. Sie flehte Gott an, dafür zu sorgen, dass Regina bis zur Ankunft in Nairobi keinen Hunger bekam und keinen Durst, keine Ohrenschmerzen wie in den letzten drei Tagen auf dem Schiff und kein Heimweh. Zu allen Schicksalsmächten, die ihr je beigestanden hatten, betete Jettel, ihre empfindsame Tochter möge weder nach ihrer Großmutter fragen noch nach dem verflixten Schaukelpferd, in der Nacht nicht von schlechten Träumen heimgesucht und bloß von keinem Menschen angesprochen werden, der auf die Idee verfiel, ihr auf die Schulter zu klopfen.
    »Ich hab Durst«, meldete Regina. »Und Fips auch. Dürfen wir das Wasser aus der Flasche trinken?«
    »Was für eine Flasche?« »Die Flasche auf dem Tisch. Am Fenster. Ich hab’ furchtbaren Durst.«
    Sämtliche Warnungen und alle Schreckensgeschichten, die sie vor der Auswanderung und auf der »Adolph Woermann« gehört hatte, trommelten auf Jettel ein. Schlagartig fühlte sie sich von Feinden umzingelt, dachte an Pest und Cholera und Fleckfieber und schließlich auch noch an den unglücklichen Afrikaforscher David Livingstone, über den sie einmal in einer Zeitschrift für die gebildete Frau gelesen hatte. Obwohl Livingstone sich ja genau im Land auskannte, war er mit einer dieser typisch afrikanischen Krankheiten zusammengebrochen und musste auf einer primitiven Trage durch den Urwald geschleppt werden. Jettel sah das Bild genau vor sich. Livingstone im weißen Tropenanzug und mit geschlossenen Augen, seine treuen Gefolgsleute mit Schaum vor dem Mund. »Nein«, befahl die, die ihrem Kind noch nie etwas befohlen hatte, »aus der Flasche darfst du nicht trinken. Das verbiete ich dir.«
    »Warum?«
    »Wer weiß, was das für Wasser ist. Vielleicht soll man sich nur die Hände damit waschen. Oder es ist vergiftet. Denk an den Brunnen, aus dem das arme Brüderchen getrunken hat. Der wollte auch nicht hören, und dann wurde er in ein Reh verwandelt.«
    »Aber Fips ist doch so schlecht«, bohrte Regina. »Und ich will ja ein Reh werden.«
    Jettel starrte zum Fenster hinaus, starrte in die Landschaft, die sie nicht mehr sehen konnte. Die Dunkelheit verhüllte die Schrecken des Lebens, aber sie verhieß keinen Trost. Auch denen nicht, die ihre Hände zum Gebet falteten. Jettel flehte darum, blind und taub und stumm zu werden. Und unsichtbar. Ein unsichtbarer Geist ohne Kind, ohne

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