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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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von Überlegungen und Theorien. Am intensivsten grübelte er, ob sein Leben anders, vielleicht gar besser verlaufen wäre, wenn er geheiratet hätte - am Ende eine Frau, die mehr konnte als kochen und fegen und ihm jeden zweiten Sonnabend das Badewasser einlassen und die Betten frisch beziehen. Josef Greschek, ein Geschäftsmann, dem die Leobschützer attestierten, er wäre mit »allen Wassern gewaschen« und er »hätte nur ein Herz für die, die nicht mehr da waren«, war der Liebe nie begegnet. Für seine Person glaubte er auch nicht, dass es sie gab. So ging ihm nicht auf, dass es zärtliche, sehnsuchtsvolle Gedanken waren, die ihn in den Schlaf geleiteten. Er schlief eineinhalb Stunden lang und hatte beim Aufwachen Schmerzen im Nacken.
    »Sie hätten mich wecken sollen«, brummte er, sobald er begriff, was geschehen war, »nun haben Sie überhaupt keinen Schlaf gekriegt.«
    »Ist schon gut. Es hat mir wohl getan, wieder einmal den Schlaf eines Mannes zu bewachen. Eine Witwe mit sechs eifersüchtigen Kindern hat dazu nicht oft Gelegenheit.« »Das verstehe ich nicht ganz.«
    »Wie auch?«, sagte sie abermals.
    Sie starrten beide zum Fenster hinaus und ließen sich von ihren Gedanken malträtieren. Leben und Landschaft waren am Nachmittag noch so erstarrt in ihrer winterlichen Unerbittlichkeit wie am frühen Morgen. Es schneite wieder, kleine Flocken, die zu einem schweren Teppich der Melancholie und Beklemmung wurden. Krähen saßen lauernd auf den Ästen kahler Bäume. Verkündeten sie den Hunger oder das Ende aller Zuversicht? Mehrmals versuchte Greschek, sich Inas schönes Gesicht vorzustellen, doch er sah immer nur ihre Perlenkette und den fünfarmigen Leuchter über dem Esszimmertisch. Was hatte die Todesangst aus dem schönen Gesicht von Frau Käthe gemacht? Was sollten Menschen, deren Gotteshäuser man verbrannt und die man auf die Straße getrieben hatte, mit einem Mohnkuchen und Persil?
    Die Aufenthalte an den Bahnhöfen wurden immer kürzer. Es war, als hätte der Lokomotivführer den Befehl bekommen, vor der Zeit das Ziel zu erreichen. An jeder Station stiegen scheinbar mehr Menschen ein als aus. Trotzdem war es ruhig im Zug geworden, eine bleischwere Stille, die schwer zu ertragen war. Der Schaffner hatte sich kein einziges Mal gezeigt. In seinem Dienstabteil wurde nur noch wenig gesprochen. Die Freigebige packte das Glas mit der Leberwurst zurück in ihre Reisetasche. Es war immer noch mehr als zur Hälfte gefüllt, weil die Menschen gelernt hatten, ihren Bedürfnissen und Begierden nicht mehr als nötig nachzugeben.
    »Danke«, sagte Greschek. Ihm war es, als wäre ihm endlich das Wort eingefallen, nach dem er so lange gesucht hatte.
    Sie verstand, denn sie vermochte zu ahnen, was ungesagt bleiben musste. «Haben Sie es weit in Breslau?«, fragte sie.
    »Zur Goethestraße«, erwiderte er. Seine Stirn wurde heiß und feucht; er dachte an das Paket, das aus Breslau zu ihm zurückgekommen war - das einzige, das mit seinem Namen als Absender versehen gewesen war.
    »Nanu«, sagte sie.
    Er hätte sie gern gefragt, was ihr »Nanu« bedeutete und weshalb sie aufgehört hatte, sich zu kämmen, und ihn forschend anschaute, doch er traute sich nicht. In dem verwirrenden Moment, da ihn die Einsamkeit schwach machte, drängte es ihn gar, ihr zu erzählen, was er vorhatte. Fragen wollte er die verständnisvolle Hilfsbereite, ob sie vielleicht von Geschehnissen wusste, die er hätte kennen sollen, ehe er mit einem Koffer voller Nahrungsmittel in der Goethestraße auftauchte, um nach einer Ausgestoßenen zu fragen. Die nie wieder empfundene Versuchung, sich einer Fremden anzuvertrauen, währte nur einen Herzschlag. Er war lang genug. Dann holte Greschek den einen Koffer aus dem Gepäcknetz und zog die anderen zwei unter den Sitzbänken hervor. Nun konnte auch er den Harzer Käse riechen.
    »Die Goethestraße ist nicht weit vom Bahnhof«, sagte sie, »Sie sehen aus wie einer, der einen guten Schritt vorlegen kann.«
    »Kann ich. Wenn ich muss.«
    »Wer muss heutzutage nicht?«
    Sie trennten sich am Bahnhof ohne Abschiedsgruß. Greschek hob trotzdem seine Rechte. Er sah, dass sie von einem groß gewachsenen, blonden Jungen abgeholt wurde. Ihm fiel ein, dass sie ihm erzählt hatte, ihr ältester Sohn stünde unmittelbar davor, zum Militär eingezogen zu werden. Der Gedanke, dass sie ihm einen kräftigen Schritt zugetraut hatte, tat Greschek wohl.
    Tatsächlich erreichte er die Goethestraße viel schneller, als er

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