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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Sitzen. Auf bleich-gesichtigen Müttern hockten blasse, schweigende Kinder mit geröteten Augen und roten Nasen. Schwangere lehnten sich so weit wie möglich zurück, damit ihr Bauch sichtbares Zeugnis für ihre Bedürfnisse ablegen konnte. Die paar Männer, die saßen, waren im Greisenalter und entsprechend kurzsichtig und schwerhörig. Von dem Anspruch einer Mutterkreuzträgerin auf einen Sitzplatz wäre keiner von ihnen zu überzeugen gewesen. Die übrigen Reisenden männlichen Geschlechts waren entweder kriegsversehrt oder in Uniform. Greschek gab umgehend und endgültig die Hoffnung verloren, vor Breslau noch einmal sitzen zu können. Er dachte an die Schmalzbrote in seinem Koffer und wunderte sich, dass der Hunger ihn außer im Bauch auch in den Waden plagte.
    »Das war’s«, sagte er. Er versuchte, was ihm in der Menschenmenge allerdings nicht möglich war, mit den Schultern zu zucken.
    Zu seiner Verblüffung antwortete seine Zugbekanntschaft mit einer Stimme, die sehr laut, in den Höhen penetrant schrill und unangenehm herrisch war. »Glauben Sie wirklich«, geiferte sie, »der Führer wäre einverstanden, wenn er wüsste, dass bei der Deutschen Reichsbahn die Auszeichnung für eine deutsche Mutter so wenig wert ist wie eine Bahnsteigkarte. Außerdem fühle ich mich verpflichtet, Sie wissen zu lassen, dass mein Schwager hier in einer kriegswichtigen Mission unterwegs ist.« Erst beim letzten Satz und weil sie sich umgedreht hatte, um auf ihn zu deuten, ging Greschek auf, dass sie die ganze Zeit mit dem Schaffner gerechtet hatte. Der Mann in Uniform war alt, müde und schon lange der Meinung, Menschen seien in unruhigen Zeiten am besten zu Hause aufgehoben. Wäre nicht Krieg gewesen, hätte er auf ein Leben in treuer Pflichterfüllung zurückblicken dürfen und hätte in seinem Schrebergarten mit Kinderschaukel und Vogelhäuschen Kopfsalat geerntet und die Radieschen wachsen sehen. »Ich bin ein Vorkriegsmodell«, pflegte er zu sagen, wenn ihm nach Seufzen zumute war, doch er meinte den Krieg von 1914.
    Der in den Dienst zurückbefohlene Bahnbeamte hatte einen fahlen Teint, ständig entzündete Augen und, wenn er abends endlich nach Hause durfte, rheumatische Schmerzen im Knie und im Kreuz. Täglich musste er erleben, dass Reisende und vor allem weibliche seiner Uniform nicht mehr den ihr gebührenden Respekt entgegenbrachten. Er wehrte sich nur in Maßen, hatte er doch für solche Fälle eine Gleichgültigkeit entwickelt, die im Kreise seiner Gleichgesinnten als »Adolfs Balsam« bezeichnet wurde und die sich in nahezu allen Krisen bewährte. Dennoch hörte der Schaffner der aufgebrachten Frau mit dem Mutterkreuz und dem schnaufenden Begleiter sehr aufmerksam zu. Ihm, der für Vorgänge beschimpft wurde, die er wahrlich nicht zu verantworten hatte, war nämlich - vielleicht zur rechten Zeit - ein Kollege eingefallen, der erst vor einem halben Jahr in fast der gleichen Situation einer Frau entgegengeschleudert hatte: »Ihr verdammter Gebärorden interessiert mich einen feuchten Dreck.«
    Der Mann, ein feiner, strammer junger Kerl mit frischem Abitur, war ursprünglich von einer Karriere bei der Luftwaffe ausgegangen. Er war jedoch wegen seines Asthmas und weil er nur ein Auge hatte nicht für tauglich befunden worden, auch nicht bei der Wehrmacht. Drei Wochen nach dem unglückseligen Vorfall mit der Mutterkreuzträgerin war er versetzt worden. Zur Abfertigung der Züge, die in Richtung Osten fuhren. Obwohl es -wiederum ausschließlich im Kreis der Gleichgesinnten und nur hinter vorgehaltener Hand - sarkastisch hieß, der Dienst im Transportwesen Ost sei sehr angenehm, weil es sich bei den Reisenden ausschließlich um solche ohne Fahrausweise handle, die zudem nie und gegen nichts protestierten, galt die Arbeitsverpflichtung auf den so genannten »Viehzügen« als eine Strafversetzung.
    »Jetzt beruhigen Sie sich erst mal, gnädige Frau«, sagte der Schaffner. Er überlegte, ob er lächeln sollte. Seiner Erfahrung nach wurden weibliche Reisende in den meisten Fällen eine gewaltige Spur zugänglicher als zu Beginn der Auseinandersetzung, wenn sie mit der Anrede »gnädige Frau« bedacht wurden, was besonders für solche Frauen galt, die augenscheinlich keine Damen waren. Diesmal allerdings erwies sich die Menschenkenntnis des Schaffners als ein Spiel mit zu vielen Unbekannten. Die Frau mit dem Mutterkreuz lief rot an und kniff ihre Lippen zusammen. Sie hatte gar den Schneid, einem Mann in der Uniform der

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