Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
Reichsbahn, der alt genug war, ihr Vater zu sein, und der Tag für Tag mehr Arbeit leistete, als die Dienstordnung von ihm verlangte, den rechten Zeigefinger in die Brust zu bohren.
    »Sie werden schon sehen, was Sie davon haben«, sagte die aufgebrachte Gekränkte; sie sah den, der noch kein Wort der Widerrede gewagt hatte, mit so viel Verachtung an, als hätte er ihr genau auseinandergesetzt, was er von ihr hielt. »Eine Frau, die dem Führer sechs Kinder geboren hat und die nun das siebte unter ihrem Herzen trägt und die nicht weiß, ob sie den Vater ihrer Kinder je wiedersehen wird, hat es nicht verdient, dass ihr Opfer mit Füßen getreten wird. Mein Mann ist seit zwei Monaten in Russland vermisst.«
    »Das wusste ich nicht«, sagte der Schaffner.
    »Natürlich nicht«, schnappte die Frau. »Ihr Männer seid doch alle gleich. Bis eine Frau nicht kugelrund ist oder nach der Hebamme ruft, bemerkt ihr nichts von einer Schwangerschaft. Wahrscheinlich erwarten Sie jetzt auch noch, dass ich mich bei Ihnen entschuldige.«
    »Aber nein«, wehrte der Schaffner ab, »Sie haben doch absolut keine Veranlassung, sich bei mir zu entschuldigen.« Seine Augenlider begannen zu flattern - das alte Leiden, wenn seine Nerven einer Belastung nicht standhalten konnten. Das Zucken war eine der vielen bösen Hinterlassenschaften von den Monaten im Schützengraben. Zum zweiten Mal in einem Zeitraum von weniger als fünf Minuten erinnerte sich der beschimpfte Bahnbeamte, dessen Gelassenheit und Kompetenz seine Vorgesetzten in keinem Arbeitsbericht zu erwähnen vergaßen, an seinen strafversetzten Kollegen. Für einen kurzen Moment, für den der gläubige Katholik noch monatelang Buße tun sollte, fragte er sich, ob sein Lebensabend vielleicht nicht ruhiger verlaufen würde, hätte er es aus-schließlich mit Menschen zu tun, die im Sprachgebrauch als »Stückzahl« bezeichnet wurden und die ihr Reiseziel nicht kannten. Er senkte den Kopf und flehte Gott an, ihn künftig von der Last des Wissens und der Versuchung der Gleichgültigen zu verschonen.
    »Also?«, bohrte die Frau. Ihr gelang es, ein einziges Wort wie einen Stein aus der Schleuder zu schießen. Die rechte Hand hielt sie schützend über das Mutterkreuz.
    »Ich könnte«, schlug der Schaffner vor, erleichtert und sehr zufrieden, weil ihm der Einfall gekommen war, »Sie und ihren werten Herrn Schwager bis Breslau in meinem Dienstabteil sitzen lassen. Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, dass ich von Zeit zu Zeit dort selbst zu tun habe.«
    »Das wird sich schon machen lassen«, befand die furchtlose Taktikerin. »Ich sage ja immer, dass wir in diesen schweren Zeiten alle unsere Kompromisse machen müssen.«
    Greschek, der noch nie eine Frau bewundert hatte außer die vom Herrn Doktor - doch an Jettel eher die weiblichen Reize und wahrhaftig nicht ihre Energie und Durchsetzungskraft -, folgte der Einfallsreichen wie ein treuer Paladin seinem Herrn. Er trug ihren Koffer und sie die Verantwortung. Der Schaffner, nun wieder der kompetente Gelassene, bahnte im schmalen Gang den Weg zwischen Reisenden, die dem ungewöhnlichen Trio murrend Platz machten. Obwohl er gehört haben musste, dass eine Frau »Bonzen« und eine andere »Protektion« zeterten, schloss er das Dienstabteil auf. Er würde, sagte er, später vorbeikommen, und es wäre besser, wenn »die Herrschaften« die Vorhänge an der Tür zuziehen würden. »Man kann nie wissen«, klagte er, »was Leuten ein-fällt, die einem anderen noch nicht einmal einen Sitzplatz gönnen.«
    Das Abteil war halb so groß wie die üblichen. Es hatte eine Sitzbank, auf der drei Menschen nebeneinander Platz fanden, und unter dem Fenster war ein Klapptisch, auf dem außer einem aufgeschlagenen Kursbuch noch zwei schwarze Kladden lagen. Auf einem blau-weiß gewürfelten Küchenhandtuch stand eine braune Thermosflasche. Unter der Sitzbank war Platz für zwei Koffer, der dritte kam ins Gepäcknetz. Der kleine Raum roch nach kaltem Zigarettenrauch und scharfem Senf, von dem auf den Frauenseiten der Zeitschriften neuerdings behauptet wurde, er sei gut als Brotaufstrich zu verwenden und ohnehin bekömmlicher als Butter. Der Senfgeruch erinnerte Greschek an die Knoblauchwurst, die Grete ihm mitgegeben hatte. »Die kannst du ruhig unterwegs essen, wenn du Hunger kriegst«, hatte sie beim Kofferpacken gesagt. »Für die Frau Schwiegermutter vom Herrn Doktor würde ich dir ja nie Schweinefleisch mitgeben. Die dürfen das ja nicht essen. Das weiß ich

Weitere Kostenlose Bücher