Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
gedacht hatte. Das Haus mit den schönen Balkons und der kleinen Putte im Vorgarten fand er, als hätte er Ina und Käthe erst Weihnachen besucht. Trotzdem lärmte sein Herz. Sein Atem kam stoßweise aus der Brust. Wieder hatte er den für ihn atypischen Drang, den Kampf verloren zu geben, ehe er begonnen hatte. Davonrennen wollte er wie ein Schulbub in kurzen Hosen, der aus Übermut auf die Klingel von Leuten drückt, die er nicht kennt.
    Ein kleiner roter Ball rollte vor seine Füße. Er stolperte, wäre fast auf einer gefrorenen Pfütze ausgerutscht und beschimpfte ein kleines Mädchen, das dem Ball nachrannte. Der Schweiß, der von seiner Stirn tropfte, blendete ihn so, dass er nur noch die Umrisse von Häusern und Zäunen sah. Sein Instinkt für Gefahr versagte. Dem Misstrauischen, der sonst die kleinsten Abweichungen von der Norm registrierte, als wären sie Ereignisse von geschichtlicher Bedeutung, fiel nicht auf, dass der Name Ina Perls nicht mehr an der Haustür stand. Er drückte auf den Klingelkopf, auf den er immer gedrückt hatte. Unmittelbar darauf hörte er eine Tür quietschen und eine Frauenstimme schimpfen. Die Haustür war nur angelehnt. Obwohl ihm sein Koffer nach der Hetze vom Bahnhof so schwer wurde, dass Arme und Beine schmerzten, lief Greschek so schnell in den zweiten Stock wie in den guten Jahren, da er um die Weihnachtszeit mit Hasen und Gänsen für Frau Ina gekommen war.
    Im düsteren Hausflur roch es nach Kohl und feuchter
    Wolle. Es irritierte ihn, dass der Geruch nicht in seine Erinnerungen passte und dass eine solche Lappalie ihn zu verwirren vermochte. Benommen stellte er den Koffer auf den Boden. Er war noch dabei, die Klingel an der Wohnungstür zu suchen, als die bereits aufgerissen wurde. Vor ihm stand eine Frau in einem geblümten Kittel. Ein etwa dreijähriges Mädchen mit stramm geflochtenen Zöpfen, das gerade zum Weinen ansetzte, klammerte sich an ihre Schürze. »Wir haben schon gegeben«, sagte die Frau, »hört denn das nie auf, dieses verfluchte Gesammele?«
    Als wäre er ein Mann ohne Ahnung und ohne Wissen von der Drachenklaue der Zeit, fragte Greschek: »Ist Frau Perls denn nicht zu Hause? Sie hat doch immer hier gewohnt. Meine ich jedenfalls.«
    »Wenn Sie meinen, dann meinen Sie ruhig mal weiter«, sagte die Frau. »Das ist Ihre Sache.« Sie starrte beim Sprechen den Koffer an, schob ihr Kind zurück in die dunkle Diele und machte eine Bewegung, um die Tür zuzuschlagen.
    Ihre Hand umklammerte den Rahmen. Die Knöchel waren weiß, das Gesicht rot und scharf geschnitten. Gre-schek hatte die irrwitzige Vorstellung, er hätte die Frau schon einmal gesehen - die lange Nase, den großen Mund, Augen, die zu Boden blickten. Es machte ihn zornig, dass er sich ausgerechnet in einem Moment zu erinnern versuchte, in dem es galt, das Gespräch in Gang zu halten. Er setzte an, etwas zu sagen, doch er hörte nur heiseres Husten, seinen pfeifenden Atem. Sie war es, die redete.
    »Verschwinden Sie, und zwar sofort! Was fällt Ihnen ein, hierherzukommen und nach einer zu fragen, die sie schon im September ins Judenhaus gebracht haben. Mit ihrer feinen Tochter. Was haben Sie mit den’ zu schaffen? Oder sind Sie auch einer von ihnen? Sie sagen doch immer, es gibt keine Juden in Breslau mehr. Mann, Sie haben genau eine Minute Zeit, um von hier wegzukommen. Dann ruf ich meinen Gatten. Der ist bei der Polizei.«
    Greschek hatte das Wort »Judenhaus« noch nie gehört, und trotzdem begriff er. Noch ehe er die Hälfte des Rückwegs zum Bahnhof geschafft hatte, fiel ihm auch ein, weshalb er gemeint hatte, er würde die Frau kennen. Sie war Dienstmädchen im Hause Perls gewesen. Auch ihm hatte sie die Wohnungstür aufgemacht, und schon damals hatte sie Greschek nie angeschaut und immer auf seinen Koffer gestiert.
    Die Tränen, die ihm kamen, hielt er für Schweiß, denn er war Tränen nicht gewohnt. Es war das erste Mal, dass er weinte, seitdem er im Hafen von Genua die »Ussukuma« hatte abfahren sehen.
    Die Dienstreise
    Nairobi-Gilgil, 5. September 1944
    »Ausgerechnet zu deinem Vierzigsten«, klagte Jettel beim Frühstück, »schicken sie dich in die Wüste. Und ich hab’ dir extra einen Apfelkuchen gebacken. Nach Mutters Rezept. Weißt du noch, wie sie zu Reginas erstem Geburtstag mit dem Kuchen in Leobschütz angerückt ist? Du warst so aufgeregt, weil sie sich so schrecklich verspätet hatte. Sie war beim Umsteigen in den falschen Zug gestiegen.«
    »Nicht, Jettel, nicht heute und

Weitere Kostenlose Bücher