Nur die Liebe heilt
weiterfuhren.
„Warum denn nicht?“ Er konzentrierte sich lieber auf die Fahrt als auf die vielen Gefühle, mit denen er sowieso nicht umgehen konnte. Wut auf Charlie, Liebe für seine Tochter, Verbitterung wegen der ganzen verdammten Situation.
„Du scheinst etwas angespannt.“
Im Rückspiegel konnte er sehen, dass Taryn aus dem Fenster schaute und nicht auf ihr Gespräch achtete, deswegen beschloss er, seiner Mutter die Wahrheit zu sagen.
„Charlie Beaumont stand hinter mir am Eisstand“, sagte er leise.
Katherine schien das nicht für ein welterschütterndes Ereignis zu halten. „Und was hast du getan?“
„Er ist nicht verletzt, falls du das meinst.“
Seine Mutter lächelte leicht. „Schön, das zu hören. Ich schätze, es haben schon genug Menschen unter seinem Fehler gelitten, meinst du nicht?“
Außer Charlie selbst. Dieser Junge hatte kein bisschen gelitten. Durch eine wundersame Fügung des Schicksals war er vollkommen unverletzt aus dem Unfallwagen gestiegen – und Brodie war sich tief im Innern ziemlich sicher, dass er erst Frieden finden würde, wenn der Junge endlich für all die zerstörten Leben bezahlt hatte.
Sie war die Schweiz.
Matterhorn, Lederhosen und diese meterlangen Trompetendinger.
Aber vor allem: Neutralität.
Evie saß in Brodies großem Eingangsbereich und wunderte sich über die Verspätung. Katherine hatte ihr vor einer halben Stunde eine SMS geschickt, in der stand, dass sie in etwa einer Viertelstunde zu Hause seien. Vielleicht hatten sie noch unterwegs angehalten, um sich die Begrüßungstafeln und -schilder anzusehen.
Sie wusste nicht, wie Taryns Heimkehr durchgesickert war, aber jeder schien Bescheid zu wissen. Vielleicht hatte die Handelskammer eine Telefonkette gestartet oder etwas Ähnliches, denn tatsächlich hatte sich fast jedes Geschäft in der Stadt irgendeinen Willkommensgruß ausgedacht.
Sie konnte nur hoffen, dass Brodie diese Form der Unterstützung als das aufnahm, was es sein sollte: ein gut gemeinter Ausdruck der Anteilnahme der Bewohner.
„Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen, während wir warten? Ein Mineralwasser oder einen Tee?“ Mrs Olafson, Brodies beängstigend tüchtige und ausnehmend stämmige Haushälterin, stand im Türrahmen. Auf den ersten Blick hatte sie trotz ihrer freundlich wirkenden Apfelbäckchen einen sehr strengen Eindruck auf Evie gemacht. Doch so, wie sie ständig aus dem Fenster sah, schien sie Taryns Ankunft genauso ungeduldig zu erwarten wie Evie.
„Nein danke“, lehnte Evie freundlich ab. „Warum setzen Sie sich nicht und warten zusammen mit mir?“
„Das kann ich nicht. Ich muss noch den Salat fürs Abendessen vorbereiten.“
„Abendessen ist doch erst in ein paar Stunden. Bitte. Setzen Sie sich.“
Mrs Olafson sah sie zögernd an, dann ließ sie sich schließlich auf dem Rand der Holzbank neben der Haustür nieder.
„Wie lange arbeiten Sie schon für die Thornes?“, fragte Evie. Sie hatte die ältere Frau öfter in der Stadt gesehen, aber ihre Wege hatten sich bisher nie gekreuzt. Da sie in den nächsten Tagen eng zusammenarbeiten würden, wäre es gut, sie besser kennenzulernen. Auf jeden Fall konnte es nicht schaden, freundlich zu sein und mehr über Mrs Olafson zu erfahren. Bisher wusste Evie nur, dass sie selten lächelte und ihr Haar immer zu einem sehr strengen grauen Knoten zusammengefasst trug. Bei ihrem Anblick musste Evie immer an ihre Grundschullehrerin denken oder – ganz allgemein – an die Aufseherin eines Frauengefängnisses.
„Ich bin seit fast fünf Jahren hier im Haus. Mein Mann war Koch und hat in Mr Thornes Restaurant im Skiresort gearbeitet.“
„Ach, von ihm haben Sie also so gut kochen gelernt?“
„ Ich habe ihm alles beigebracht, was ich kann“, berichtigte Mrs Olafson, und zum ersten Mal umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Es verblasste schnell. „Nur wenige Monate, nachdem wir von Minneapolis hierherkamen, wurde bei ihm Leberkrebs diagnostiziert.“
„Oh. Das tut mir leid.“
Mrs Olafson zuckte mit den Schultern. „Ich war mir sicher, dass Mr Thorne ihn feuern würde, aber das hat er nicht getan. Er hat weiter sein Gehalt bezahlt, selbst als er nicht mehr arbeiten konnte. Nach Davids Tod hat Mr Thorne mich gefragt, ob ich bei ihm als Haushälterin arbeiten wolle. Seitdem bin ich hier.“ Sie nestelte an ihrer Schürze herum, mit ihren blassblauen Augen starrte sie wieder hinaus zur Auffahrt. „Mr Thorne ist ein sehr guter Mensch. Ich bin zwar eine gute
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