Nur die Liebe heilt
„Wenn du die Therapie so hasst, gut. Dann können wir es auch lassen. Du möchtest für immer so bleiben, wie du jetzt bist? In Ordnung. Evie, Sie brauchen nächste Woche nicht mehr zu kommen. Und ich rufe Stephanie an und sage ihr, dass sie die ganze Sache vergessen soll. Wir brauchen sie nicht mehr. Taryn ist der Ansicht, dass die Therapie vorbei ist. Sie hat ihrer Meinung nach genug Fortschritte gemacht.“
Taryn senkte den Blick und sah auf ihre Hände. „Das … will ich nicht.“
„Was dann?“
„Ich weiß nicht.“ Ihre Stimme war zittrig, die Worte klangen verwaschen. Mit einem Mal schien ihr Zorn verflogen zu sein, sie sank in ihrem Stuhl zusammen. „Ich hasse die Therapie nicht. Und Evie auch nicht.“
Obwohl ihre Wange pochte und wahrscheinlich Blut auf ihr Lieblings-T-Shirt tropfte, machte Evie einen Schritt auf sie zu und streichelte ihr übers Haar. „Ich weiß, Liebes. Ich weiß.“
Taryn drückte ihr Gesicht in Evies Hand und begann zu weinen. Erschrocken warf Evie Brodie einen Blick zu. Wie erstarrt beobachtete er die beiden.
Zittrig holte Evie Luft, ein merkwürdiges, tief in ihrem Innern vergrabenes Gefühl stieg in ihr auf. Sie hatte vor Jahren einmal alte, körnige Fotografien von einem Dammbruch gesehen, und etwas in dieser Art schien gerade vor sich zu gehen. Als ob all ihre Gefühle, die sie so lange zurückgehalten hatte, erst einen kleinen Riss in der Wand gefunden hätten, dann noch einen und immer weitere, bis der Damm nun brach. Zärtlichkeit überwältigte sie – nicht nur für dieses Mädchen, das so viel durchgemacht hatte, sondern auch für Brodie, diesen starken, beschützenden undbesorgten Vater, dem das Wohl seiner Tochter über alles ging.
„Tut mir leid. Ich bin … schrecklich“, murmelte Taryn.
„Ja. Manchmal.“ Evie lächelte. „Ich fürchte, ich kann auch ein bisschen streng sein. Ich freue mich einfach so über deine Fortschritte, dass ich manchmal glatt vergesse, wie hart du sie dir erarbeitet hast.“
„Ich hätte die … Hantel … nicht werfen dürfen. Sie bluten immer noch.“
Evie konnte spüren, wie das Blut über ihre Wange lief. Auf einmal wollte sie nur so schnell wie möglich weg, das Blut abwischen und allein sein, um irgendwie mit diesem Gefühlsansturm zurechtzukommen.
„Mach dir keine Gedanken, das wird schon wieder. Ich wollte sowieso in einer Stunde Feierabend machen. Jetzt gehe ich eben etwas früher, und dann kann ich mich zu Hause darum kümmern.“
Brodie sah sie mit ernstem Gesicht an. „Vergessen Sie’s. Ich lasse Sie nicht blutüberströmt allein nach Hause fahren.“
„Blutüberströmt ist etwas übertrieben.“
„Dann eben verletzt. Wie auch immer, wir müssen die Wunde erst mal säubern.“
Sie wollte ablehnen, spürte aber, dass dies einer der Augenblicke war, in denen Brodie sich nicht umstimmen ließ. Und im Moment fühlte sie sich nicht in der Lage, mit ihm zu streiten. Eine kluge Frau, sagte sie sich, muss auch mal nachgeben können.
Was war da eben geschehen?
Brodie steuerte Evie zu dem kleinen Gästebad beim Eingang, wo sich das Medizinschränkchen befand. Wahrscheinlich hätte er Verbandszeug und Desinfektionsspray auch in Taryns Zimmer finden können, aber er wollte einen Moment mit Evie allein sein.
„Setzen Sie sich. Ich reinige jetzt die Wunde und sehe mir den Schaden an.“
„Wirklich, Brodie. Ich kann das selbst. Ich brauche keine Krankenschwester.“
„Mein Haus, meine Verantwortung. Hinsetzen.“
Nach kurzem Zögern gab sie nach und hockte sich auf die kleine Bank. Er wusch sich die Hände und suchte dann nach den Desinfektionstüchern, mit denen er früher Taryns aufgeschlagene Knie und blutige Ellbogen gesäubert hatte, wenn sie mal wieder kopfüber von der Schaukel gefallen war oder einen Salto übers Fahrrad gemacht hatte.
Aber er wollte jetzt nicht daran denken, dass er seiner Tochter nicht mehr mit einem Kuss und einem Pflaster helfen konnte.
Seufzend richtete er seine Aufmerksamkeit auf Evie. Ihre Wange sah schlimm aus, blutverschmiert, und wieder fuhr ihm dieser Stich in den Magen wie zuvor, als er genau in dem Moment ins Zimmer gekommen war, als Taryn die Hantel von sich geschleudert hatte.
„Ich kann nicht fassen, dass Taryn ihre Wut an Ihnen ausgelassen hat. So ist sie eigentlich nicht.“
„Sie hatte ein paar schwierige Tage“, erwiderte Evie. „Ich vermute, dass sie frustriert ist, weil sie im Moment kaum Fortschritte macht. Und weil sie trotz der harten Arbeit noch
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