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Nur dieser eine Sommer

Nur dieser eine Sommer

Titel: Nur dieser eine Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Alice Monroe
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hingegen wies den zartgliedrigen Körperbau, die blonden Haare und die blauen Augen der Mutter auf.
    Lovie indes liebte die dunkle Hautfarbe ihrer Tochter und nannte sie stets „meine kleine Seeschwalbe“, der glänzenden dunklen Augen und des schimmernden schwarzen Haarschopfes wegen. Manchmal auch neckte sie Cara und bezeichnete sie als Lachmöwe – noch ein schwarzköpfiger Vogel mit lautem, gackerndem Ruf.
    Cara beugte sich näher zum Spiegel und fuhr sich mit der Hand über die Wangen. Kosename hin oder her: Die Südstaaten der sechziger und siebziger Jahre hatten einem mageren, unattraktiven Mädchen das Erwachsenwerden nicht leicht gemacht. Doch das hässliche Entlein war zu einem dunklen Schwan geworden. Ihr einst schlaksiges Äußeres, für das Cara viel Spott hatte einstecken müssen, war zu etwas gereift, das Kolleginnen und Kollegen als „auffallend attraktiv“ bezeichneten. Ihre vormals häufig gerügte aggressive Intelligenz wurde als „markantes Selbstbewusstsein einer erfolgreichen Karrierefrau“ beschrieben.
    An diesem Abend kamen Cara diese Definitionen jedoch auf schmerzliche Weise unpassend vor. Sie war kein Kind und auch keine junge Frau mehr. Im Spiegelbild erkannte sie die neue Brüchigkeit ihrer Haut, die zarten Falten um Augen und Mundwinkel, die ersten grauen Haare an den Schläfen. Voller Bitterkeit dachte sie daran, dass sie mittlerweile nicht mehr auffallend attraktiv und längst nicht mehr erfolgreich war. Sie wirkte vielmehr so müde und mitgenommen wie das alte Strandhaus.
    Ich lege mich nur einen Augenblick hin, redete sie sich ein, wandte sich vom Spiegel ab, entledigte sich ihrer Oberbekleidung und ließ sie achtlos auf dem Boden liegen. Lediglich mit Unterwäsche und einem T-Shirt bekleidet, zog sie die Laken zurück und streckte sich gähnend auf der weichen Matratze aus.
Nur die Augen etwas ausruhen lassen.
    Das alte Leinen fühlte sich frisch an; eine feuchtmilde Meeresbrise strich Cara wie Balsam über die bloße Haut. Ganz langsam glitten die Gedanken davon, die Lider wurden ihr schwer, und Cara spürte, wie sie sich treiben ließ, Stück für Stück. Das Leben, das sie noch vor Stunden geführt hatte, schien so fern wie die City von Chicago zu sein. Cara kam zur Ruhe, tiefe Stille erfüllte ihre Seele. Draußen vor dem Fenster rauschte der Ozean, der sie einlullte und sanft wie Mutterarme in den Schlaf wiegte.
    Ziellos wie ein Stück Strandgut irrte Caras Geist durch das Tohuwabohu der Ereignisse, die sich in den vergangenen Tagen zugetragen und sie zu dieser Reise veranlasst hatten. Begonnen hatte alles am Dienstagmorgen, als das Telefon in ihrem Büro läutete und sie ohne jede Vorwarnung zu Mr. David Alexander gebeten wurde. Als Personalchef war Dave für Entlassungen zuständig und als gnadenloser Henker berüchtigt. Alle Welt wusste: Wenn man zu Dave bestellt wurde, kam das einer Einladung zu einer langen Autofahrt mit der Mafia gleich.
    Warum erschießen sie mich nicht gleich, hatte Cara sich aufgebracht gefragt, während sie im Aufzug zum 29. Stock hinauffuhr. Schließlich war sie ein arbeitsabhängiger Workaholic; sie brauchte ihre Arbeitsstunden wie eine Droge, und nun wollte man ihr offensichtlich den Nachschub verwehren. Freilich, sie hatte einen wichtigen Stammkunden verloren, doch in der Werbebranche passierte so etwas nun mal. Ansonsten verfügte sie doch über eine makellose Erfolgsbilanz! Stand sie nicht kurz davor, als Ersatz einen neuen Großauftrag an Land zu ziehen? Während sie den Korridor entlangschritt, fiel ihr die außergewöhnlich gespannte Stille auf, die in dem Gewirr von Großraumarbeitsplätzen und engen Büros herrschte. Nur ein gelegentliches Läuten des Telefons und ein kurz darauf unterdrücktes Schluchzen unterbrachen diese Ruhe. Leere Karteikästen säumten die Flure, und was Cara am meisten irritierte, waren bewaffnete Sicherheitsleute, welche die Aufzugtüren bewachten. Sie schluckte heftig, marschierte steifbeinig durch das Labyrinth aus Fluren und Zimmern. Also war an den Gerüchten doch etwas Wahres dran! Offenbar rollten Köpfe, und zwar nicht zu knapp.
    Als sie endlich vor Mr. Alexanders Dienstzimmer anlangte, war ihre Haut von einem feuchten Schweißfilm überzogen. Mit hölzernen Bewegungen nahm sie Platz, lehnte den angebotenen Kaffee und das Glas Mineralwasser ab. Letztendlich verlief alles so, wie sie befürchtet hatte. Mit seiner dünnen, nasalen Stimme teilte der „Henker“ ihr zu seinem großen Bedauern mit, dass

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