Nur dieser eine Sommer
Letzt erstand Cara noch ein paar bequeme Sandalen mit breiten Fußriemen, nicht eben elegant, doch ideal für lange Strandspaziergänge, und eine marineblaue Baseballkappe mit dem aufgestickten Wappen von South Carolina. Die Mütze behielt Cara gleich auf, der Strohhut sowie die strassverzierten Schläppchen wanderten wie zuvor die Seidensachen in die nunmehr ziemlich dickbäuchige Tragetasche. Als Cara den Laden verließ, schaute sie im Vorübergehen in den Spiegel. Ihre Arme und der Hals waren rot vom Sonnenbrand, die langen, dünnen Beine weiß wie ein Fischbauch.
„Touristin, unverkennbar“, gestand Cara, doch sie lachte dabei. Den unbekümmerten Look, den sie an ihrer Mutter so bewunderte, für den hatte sie sich nun auch entschieden, und es machte Spaß.
„Stimmt“, pflichtete ihr die Verkäuferin bei, „aber Sie fallen jetzt nicht mehr so auf!“
Obwohl die Meeresschildkröte schon erschöpft und ausgehungert ist, beginnt für sie erst jetzt der härteste Teil ihrer Reise. Im Durchschnitt gräbt eine Meeresschildkröte vier Gelegegruben pro Brutsaison, wobei sie von Eiablage zu Eiablage jeweils zwei Wochen rastet.
5. KAPITEL
Z usammengesunken saß Lovie auf der unbequemen Untersuchungsliege und knöpfte sich mit bebenden Fingern die Bluse zu. Bei diesen Strahlenbehandlungen hatte man stets das Gefühl, als sauge einem die Therapie den letzten Tropfen Energie aus dem Leib. Wenn es mit dem Krebs doch nur genauso wäre, dachte Lovie bekümmert. Aber so einfach gab sich der Krebs leider nicht geschlagen. Sie musste sich der Tatsache stellen, dass die Strahlentherapie nicht richtig anschlug. Lediglich in der Hoffnung, dadurch ihr Leben um wenige Monate verlängern zu können, hatte Lovie in die Strahlentherapie eingewilligt, denn als Pflegefall wollte sie nach einem erfüllten, aktiven Leben keinesfalls enden.
Ihre Hand erstarrte an der Knopfleiste. War es nicht allmählich an der Zeit, Sohn und Tochter über die Krankheit zu informieren? Die Frage ging Lovie häufig durch den Kopf. Natürlich war sie geschockt, ja, vor Angst geradezu wie gelähmt gewesen, als der Tumor im Dezember des vergangenen Jahres entdeckt worden war. Er hatte damals bereits eine Größe gehabt, die eine Operation nicht mehr zuließ. Alle Prognosen sahen düster aus. Lovie hatte ihre Entscheidung sorgfältig abgewogen und sich dann auf ihre jahrelange Erfahrung im Umgang mit ihren Kindern verlassen. Mit unangenehmen Dingen hatte sie Cara und Palmer nie behelligt und auch diesmal die Krankheit für sich behalten.
Außerdem hätte Palmer, der stets sehr auf seine Mutter fixiert war, ein Riesentheater veranstaltet. In einem fort wäre er damit beschäftigt gewesen, zwar dramatisch, doch zwecklos die Hände zu ringen, zu toben und zu behaupten, er werde die besten Spezialisten konsultieren und seiner Mutter, verdammt noch mal, die bestmögliche Behandlung angedeihen lassen. Sodann hätte er wahrscheinlich seine Julia dazu verdonnert, als Lovies Oberpflegerin zu fungieren. Dabei wusste Lovie, dass ihre Schwiegertochter mit einer solchen Aufgabe überfordert gewesen wäre. Julia mochte zweifellos ein braves Mädchen sein, aber sie wäre nur dauernd nervös herumgewuselt, von einer Krise in die nächste geschlittert und völlig von der Rolle gewesen. Das zwangsläufig folgende Chaos hätte nur die beiden Kleinen verstört. Und ganz abgesehen davon, hätte Palmer es nie und nimmer zugelassen, dass seine Mutter aus dem Haus in Charleston ausgezogen wäre, um sich im Sommerhaus einzurichten.
Und Cara … Lovie knöpfte den letzten Knopf zu und ließ die Hände in den Schoß sinken. Schwer zu sagen, wie Cara wohl auf die Nachricht von der Krankheit reagiert hätte. Möglich, dass sie Sonderurlaub genommen, sich gleich auf den Weg gemacht und die Pflege der Mutter an sich gerissen hätte, wie es ihrer zupackenden Art entsprach. Möglicherweise wäre auch nur ein Blumenstrauß von ihr eingetroffen.
Oh ja, von anderen Krebspatienten hatte Lovie mancherlei Geschichten gehört, herzzerreißende Berichte über Kinder, die es nicht für nötig hielten, die schwer kranken Eltern zu besuchen, über alte Freunde, die sich nicht einmal die Mühe eines Telefonanrufs machten, über Geschwister, die so taten, als gäbe es den Krebs gar nicht oder als müsse man ihn einfach nur ignorieren, damit er von selbst verschwand. Glaubten die etwa, Krebs sei etwas Ansteckendes? Hatten sie denn so mit sich selbst zu tun, dass sie sich nicht von der
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