Nur dieser eine Sommer
Unannehmlichkeit einer tödlichen Krankheit die Laune verderben lassen wollten? Oder machte ihnen gerade der Gedanke an den Tod solche Angst, dass sie ihn lieber verdrängten? Kein Wunder, dass sterbenskranke Menschen sich oft so allein fühlten.
Die Kälte, die ihr besonders hier im nüchternen Behandlungszimmer stets durch die dünne Haut drang und sich bis in die Knochen fraß, ließ Lovie erschaudern. Blicklos, unendlich müde und den Tränen nahe, starrte sie die grünen Kacheln an. Die Behandlung schlug ihr regelmäßig auf den Magen. Sie wollte nur eins: heim, heim zum Sommerhaus, wo sie im Windschatten auf der Veranda in ihrem vertrauten Schaukelstuhl sitzen und dem tröstlichen Murmeln des Meeres lauschen konnte.
Sie hob den Kopf, als jemand forsch anklopfte. Die Tür flog auf, und herein stürmte Dr. Pittman in wehendem weißen Kittel. Dr. Pittman schien es immer eilig zu haben und hatte die irritierende Angewohnheit, stets hektisch und abgehackt zu sprechen, um nur möglichst schnell zur Sache zu kommen. Nach Lovies Ansicht lag das an zwei Gründen: Zum einen war der gute Doktor offenbar derart hochintelligent, dass sein Mund mit dem Hirn nicht recht Schritt halten konnte, zum anderen hatte er in Harvard oder Yale oder einer ähnlichen Eliteanstalt studiert und war folglich Nordstaatler. Er galt als der beste Facharzt weit und breit. Nichtsdestoweniger meinte Lovie, er wäre zu jung für die vielen gerahmten Diplome und Urkunden, die an den Wänden hingen.
„Guten Morgen, Mrs. Rutledge!“ rief er betont fröhlich, wobei er jedoch auf die Krankenakte schaute.
Lovie murmelte einen höflichen Gegengruß und zog sich den Kragen der Bluse enger um den Hals.
Hinter Pittman trat Toy ins Zimmer. Die treue Seele, durchfuhr es Lovie. In diesen vergangenen Monaten hatte das Mädchen weiß Gott einiges auf sich nehmen müssen: die Fahrten zur Therapie und zurück, das stundenlange Warten … und alles, ohne sich zu beklagen. Natürlich waren die Chauffeurdienste wichtig, doch angesichts der übrigen von Toy verrichteten Pflegedienste kaum der Rede wert. Toy erledigte den Großteil der Einkäufe, verrichtete die gesamte Hausarbeit und begleitete Lovie sogar zum sonntäglichen Gottesdienst. Am wichtigsten allerdings war sie als Gesprächspartnerin. Traf Lovie nach der Strahlenbehandlung mehr tot als lebendig zu Hause ein, dann war es schlichtweg eine Erholung, es sich bequem zu machen und einfach nur Toys lebhaftem Geplapper zuzuhören. Toy trug das Herz auf der Zunge und kam vom Hölzchen aufs Stöckchen. Sie war eben jung. Lovie konnte sich nicht vorstellen, wie sie ohne das Mädchen zurechtgekommen wäre. Toy war ihr mehr als nur Gefährtin. Sie war ein Geschenk des Himmels.
Auch diesmal erfasste sie gleich die Lage, eilte herbei, ergriff Lovies ausgestreckte Hand und drückte sie aufmunternd und erleichtert zugleich. Mit ihrem übermüdeten, blassen Gesicht und der sommersprossigen Nase jedoch wirkte sie viel zu jung, um Mutter eines Kindes zu werden.
„Der liebe Gott hat uns zwar aufgetragen, uns um die Kranken zu sorgen“, mahnte Lovie und tätschelte dabei Toys leicht schwielige Hand, „aber du tust manchmal wirklich etwas Zuviel des Guten.“
„Ach was, halb so wild!“ Das Mädchen wischte Lovies besorgte Bemerkung beiseite.
„Der liebe Gott wird’s dir vergelten“, versicherte Lovie lächelnd und fügte etwas ernsthafter hinzu: „Dass es so lange dauern würde, konnte ich nicht ahnen.“
„Ich habe drüben gesessen, gelesen und ferngeschaut. Übrigens, Doktor, Ihre Klinik könnte weiß Gott ein paar neue Zeitschriften gebrauchen. Die aktuellste ist vier Monate alt. Echt blamabel, so was!“
Dr. Pittman hörte nur mit halbem Ohr zu und nickte abwesend. Nach wie vor war er in Olivias Krankenblatt vertief.
Toy wandte sich wieder an Lovie. „Müde?“ fragte sie. „Sie sehen nämlich müde aus. Wie wär’s mit ’nem Imbiss oder einer Erfrischung unterwegs?“
„Für mich nicht. In meinem Magen rumort es noch immer, als schlüge er Purzelbaum. Aber wenn du etwas essen möchtest, können wir gern anhalten. Das täte auch dem Baby gut.“
„Es wäre mir lieb“, mischte sich der Arzt ein, „wenn Sie etwas besser essen würden, Mrs. Rutledge. Sie nehmen ständig ab!“
„Ich gebe mir Mühe“, erwiderte Lovie kraftlos und mehr dem Arzt zum Gefallen, denn insgeheim hielt sie den Rat für zwecklos. Sie hatte ohnehin nicht mehr lange zu leben. Natürlich konnte sie das nicht offen
Weitere Kostenlose Bücher