Nur dieser eine Sommer
Charleston in der Fremde gelebt, deinen Südstaatenakzent aufgegeben und deine Diplome eingeheimst hast. Doch die Frage ist und bleibt: Woher kommst du? Mein Schatz, so weit kann man gar nicht reisen, so viele Jahre kann man gar nicht fern der Heimat leben, als dass man je seine Herkunft verleugnen könnte! Die trägt man mit sich im Blut!“
„Aha! Jetzt liest du mir wohl die Leviten, was?“
In Lovies Augen blitzte ein Funken schmerzlich erworbener Lebensweisheit auf. „Allmählich machst du mir Sorgen! Kein Zweifel, du bist eine starke Frau. Doch Stärke allein, ohne Flexibilität, lässt einen Menschen bloß unbeugsam werden. Warte nur ab! Im September, wenn es von See her heftig zu stürmen beginnt, dann knicken die Bäume aus hartem Holz, splittern und stürzen um. Die elastischen Palmen jedoch sind zäh und biegsam. Darin liegt das Geheimnis von uns Südstaatenfrauen: in Kraft, Schönheit und Geschmeidigkeit. Unflexibel sind wir nie gewesen!“
Mit geschlossenen Augen zählte Cara bis zehn. „Wenn ich mich zum Dinner umziehe – ersparst du mir dann weitere Gardinenpredigten?“
Lovie setzte ihr reizendstes Lächeln auf und rückte ihr Tuch zurecht. „Aber ich bitte dich! Trag, was du möchtest, Liebes!“
Also war doch Umkleiden angesagt. Cara streifte das neue, lange Baumwollkleid mit dem Blumenmuster über und ließ das dunkle Haar wie eine glänzende Mähne lose auf die Schultern fallen. Als einzigen Schmuck legte sie große, goldfarbene Ohrringe und Armreifen in hellen Farben an. Ihrer Mutter zuliebe schminkte sie sich noch die Lippen rot.
„Du schaust richtiggehend exotisch aus“, lobte Lovie und nickte dabei zustimmend, als Cara zum zweiten Mal auftauchte.
Cara musste sich eingestehen, dass sie sich in dem locker fallenden Kleid sehr wohl fühlte. Es fiel zudem in dieser Umgebung weniger auf.
Toy erschien in einem langen schwarzen Rock, kombiniert mit einem weiten, schwarzen Jerseytop, das sich über dem Bauch spannte. Sie schwieg, wirkte mürrisch und in sich gekehrt und erinnerte Cara an einen schwarz gewandeten japanischen Puppenspieler, der unauffällig im Bühnenhintergrund agiert. Die Vorstellung eines Dinners im formellen Rahmen des Herrenhauses in Charleston bereitete Toy offensichtlich Unbehagen. Gut ein Dutzend Gründe hatte sie vorgebracht, um sich vor dem Besuch zu drücken. Lovie war allerdings unerbittlich gewesen und hatte auf der Teilnahme ihrer neuen Freundin bestanden und damit gedroht, sie werde andernfalls ebenfalls zu Hause bleiben. Als dann auch noch von Cara Einwände vorgebracht worden waren, hatte diese sich einen warnenden und unmissverständlichen Blick ihrer Mutter eingehandelt. Ganz offensichtlich gab Lovie sich keinen Illusionen hin, was die Einstellung ihres Sohnes zu Toy betraf, machte sich aber nicht das Geringste daraus. Eingedenk ihres Versprechens hatte Cara sich weitere Bemerkungen verkniffen und ihrem Bruder den Hinweis auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, er solle mit einem weiteren Gast rechnen.
Das Wetter tat heute ein Übriges und sorgte für die rechte Ausflugstimmung. Bei makellos blauem Himmel, niedriger Luftfeuchtigkeit und einer sanften, angenehmen Brise begab sich das Damentrio auf den Weg nach Charleston. An einem milden Samstagnachmittag wie diesem kam es somit wenig überraschend, dass die Ben-Sawyer-Brücke hochgezogen war, um eine lange Bootsparade von Wochenendausflüglern durchzulassen. Cara reihte sich in die Schlange der vor dem Flussufer wartenden Autos ein und erfreute sich an den Oldie-Hits, die aus den Fenstern des vor ihr stehenden Fahrzeugs dröhnten.
„Hören Sie nur! In dem Song kommt Ihr Name vor!“ rief Toy vom Rücksitz. „Stimmt doch, oder?“ Sie sang sogar mit. „Caretta, Caretta …“
„Der Song heißt Corinna, Corinna“, verbesserte Cara trocken. „Was mir persönlich im Übrigen als Name erheblich besser gefallen hätte als die zoologische Bezeichnung für eine Schildkrötenart!“
„Na ja, wie soll ich das auch wissen?“ entgegnete Toy und wippte mit dem Rücken gegen die Sitzlehne. „Ist ja ’n ziemlich alter Titel. War sicher vor meiner Zeit.“
„Vor meiner auch“, murmelte Cara, wobei sie sich das Lachen kaum verkneifen konnte.
„Eigentlich müsstest du stolz wie Oskar sein, dass du nach der altehrwürdigen Meeresschildkröte benannt bist“, wandte ihre Mutter ein.
„Gott sei Dank habt ihr mich nicht Caretta Caretta getauft. Die vollständige lateinische Bezeichnung wäre noch
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