Nur ein Augenblick des Gluecks Roman
seine Kreditkarte auf den Tresen. Der Mann warf einen kurzen Blick darauf und fragte: »Brauchen Sie sonst noch was?«
Am anderen Ende der Ladentheke stand ein Kühlschrank. Justin schob die Glastür auf und fand zwischen Soda- und Saftdosen eine schlanke Flasche mit Quellwasser. Er stellte sie neben seiner Kreditkarte ab und sagte: »Nur die noch.«
Die Fahrt vom Laden bis zum Friedhof dauerte keine drei Minuten, Justins Fußweg über das unebene Gras zwischen den Gräbern keine zwei.
Als er vor dem bescheidenen Grab mit seinen drei Steinen stand, befand er sich im Zentrum eines Kreises von Eichen.
Über ihm wogte das gewölbte Dach aus Baumkronen in der warmen sommerlichen Brise. Und um ihn herum schimmerten Tausende tanzender Sonnenstrahlen durch das blasse Grün der Blätter.
Justin trat zu dem verwitterten Grabstein mit seinem Namen und kniete davor nieder. In seinen Händen hielt er ein kleines Bündel - eingewickelt in weißes Segeltuch und zusammengehalten von einem Schnürsenkel. Er legte das Bündel auf den Boden und öffnete es.
Auf der glatten Oberfläche des Stoffs arrangierte er schweigend die einzelnen Gegenstände. Eine Flasche Quellwasser. Einen echten Schwamm, ungefähr in der Form und Größe einer Aprikose. Einen eleganten Pinsel mit Chinaborsten so schwarz und weich wie ein Pelz. Einen Meißel für Steinmetzarbeiten mit scharfer Klinge und einem kühlen, silbrigen Schaft. Und einen schweren Hammer mit dickem Griff und zweieinhalb Pfund gehämmertem Stahl an seinem stumpfen Kopf. Zu diesen Dingen legte Justin noch einen weiteren Gegenstand, den er in seine Hosentasche gesteckt hatte, um ihn vor dem Zerbrechen zu schützen. Die flache Glasschüssel.
In die Schüssel goss er einen Teil des Quellwassers. Dann tauchte er den Schwamm in das Wasser und begann vorsichtig, den staubigen Schleier abzuwaschen, der sich über den Namen »Thomas Justin Fisher« und die Daten »21. September 1972 - 20. Februar 1976« gelegt hatte.
Als die Inschrift sauber und deutlich lesbar war, nahm Justin den Meißel und setzte die Klinge an der in den Stein gehauenen Kante der Ziffer »6« an. Dann hob er den Hammer und machte sich ans Werk.
Als er fertig war, nahm er den eleganten Pinsel und entfernte damit den feinen Gesteinsstaub, den seine Arbeit hinterlassen
hatte. Nun war das Ergebnis seiner Bemühungen deutlich zu erkennen: auf dem Stein standen nur mehr sein Name und sein Geburtsdatum.
Der 20. Februar 1976 war verschwunden.
Er hatte endlich einen Schlusspunkt unter sein Leben in der Lima Street gesetzt.
Als Justin sein Zuhause in Santa Monica erreichte, stieg er aus dem Wagen und ging auf die Haustür zu. Er sah, dass sie offen stand.
Über den Holzfußboden rannte Zack ihm auf seinen nackten, kleinen Füßen entgegen.
Auch Amy war da. Sie wartete.
Vom Ozean her näherten sich Nebelbänke; sie filterten das Licht und ließen das Innere des Hauses gleichzeitig leuchtend und düster erscheinen wie die Essenz einer kostbaren, verblassenden Erinnerung.
Postskriptum
New York City, Oktober 2006
E s war Halloween. Und der Mann, der vor 34 Jahren als junger Priester nach Manhattan gekommen war, war inzwischen Bischof der Stadt. Er lag im Bett und schlief. Mit seiner Frau an seiner Seite.
Der Bischof träumte von einem lange zurückliegenden Oktober und dessen letztem Tag.
Er träumte von dem Mädchen, das er geliebt hatte. Und von dem einzigen Mal, als sie miteinander geschlafen hatten. Er träumte von einem verzauberten Nachmittag in der Kirche St. Justin.
Im Traum fühlte er sich, wie ein frisch gekrönter Engel sich fühlen muss, wenn der Wind um seine Flügel spielt und ihm - zum allerersten Mal - die Fähigkeit zu fliegen geschenkt wird.
Die Originalausgabe erschien 2010
unter dem Titel »The Language of Secrets«
bei Doubleday, a division of Random House Inc.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung August 2010
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Dianne Dixon
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Cover Artwork: Debra Lill, Design: Emily Mahon
Redaktion: Cathrin Wirtz
IK · Herstellung: Str.
eISBN : 978-3-641-04803-7
www.goldmann-verlag.de
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