Nur ein Augenblick des Gluecks Roman
nach seinem Abschluss war er in Boston eingetroffen, hatte sich im Büro der Universität gemeldet, die für die Auszahlung seines Stipendium nötigen Formulare unterschrieben und schließlich ein halbes Zimmer in einem drückend heißen Apartment gemietet, in dem Ratten und Reggae den Ton angaben. Kurz darauf hatte er sich einen Job als Page in einem schicken, kleinen Hotel besorgt.
Justin hatte dunkles Haar und grüne Augen. Er war eins achtundachtzig, schmal, breitschultrig - er hatte den Körperbau eines Schwimmers und wenn er lächelte die Andeutung eines Grübchens. Damals in Boston hatte sein Aussehen bei den weiblichen Hotelgästen dieselbe Reaktion hervorgerufen wie heute. Die Empfangsdame des Krankenhauses errötete und sagte: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Robert Fisher«, sagte Justin. »Ich bin sein Sohn. Ich möchte ihn besuchen.«
Die Empfangsdame wandte den Blick gerade lange genug ab, um die Informationen auf ihrem Bildschirm aufnehmen zu können. Als sie ihn wieder anschaute, wirkte sie nervös: »Wissen Sie was … Ich denke, Sie sollten mit der Verwaltungschefin sprechen. Ich werde sie ausrufen lassen. Sie können in ihrem Büro warten.« Sie deutete ans andere Ende eines langen Korridors. Dessen Wände waren kahl und hatten die Farbe von Schnee; entlang beider Seiten zogen sich Reihen offener Türen, deren Rahmen in einem glänzenden Schwarz mit goldgelben Kanten gestrichen waren. Auf diese Weise ähnelte der Gang einer ansonsten schmucklosen Kunstgalerie, die alle Aufmerksamkeit auf die massiven, goldgerahmten Bilder lenkte.
Justin wandte sich vom Empfang ab und betrat den Korridor. Hinter einer der offenen Türen lag eine alte Frau auf einem hohen, schmalen Bett. Die Haut an ihrem spindeldürren Körper war bläulich-weiß. Ein komatöser Überrest, gezeichnet durch den unweigerlichen Verfall der eigenen Existenz. Ihr Anblick ließ Justin schaudern.
Er wandte sich ab. Durch eine andere Tür entdeckte er einen alten Mann. Groß und sehr kräftig gebaut. Ein Mensch, der vielleicht einmal Truppen kommandiert oder Stahl für Hängebrücken geschweißt hatte, jetzt aber als Schatten seiner selbst auf der Kante eines Krankenhausbettes saß. Tief schlafend. Seine Beine waren geöffnet, sein Krankenhaushemd klaffte auseinander. Der letzte Rest seiner Würde war im Schwinden begriffen.
Justin hatte das Gefühl, als müsse er ersticken. Das Mädchen mit der roten Baseballkappe musste sich geirrt haben. Unmöglich, dass sich sein Vater inmitten dieser Ansammlung
menschlicher Wracks aufhielt.Vor seinem inneren Auge sah Justin ihn mit Julie und Lissa, wie er die Mädchen mühelos hochhob und durch die Luft sausen ließ. Ein derart vitaler und starker Mann gehörte nicht an einen Ort wie diesen. Dies war ein Wartezimmer für den Tod.
Mit wenigen schnellen Schritten erreichte Justin das Ende des Gangs und trat ins Büro der Verwaltungschefin. Es war klein und unaufgeräumt und, zu Justins Erleichterung, leer. Er musste allein sein. Er musste, im wahrsten Sinne des Wortes, wieder Luft bekommen.
Er spürte Panik in sich aufsteigen. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er auf diesen Moment nicht vorbereitet war. Es blieben zu viele fehlende Teilchen - zu viele unvollständige Informationen. Er hatte keine Ahnung, wo seine Mutter sich aufhielt; und er konnte sich nicht einmal deutlich das Gesicht seines Vaters in Erinnerung rufen.
Innerhalb kürzester Zeit fühlte er sich in dem engen, stickigen Büro wie in einem Käfig.
Er stand auf und zog seine Schlüssel aus der Tasche. Als er den Raum gerade verlassen wollte, betrat die Leiterin der Krankenhausverwaltung das Zimmer. Sie war eine Frau ohne besondere Merkmale und trug Kleidung in unterschiedlichen Beigetönen. »Es tut mir leid, dass ich Sie warten lassen musste«, sagte sie. »Sie sind also Mr. Fishers Sohn?«
Das Erscheinen der Frau hatte jegliche Aussicht auf eine schnelle Flucht zunichtegemacht. Justin war gefangen.
»Wir wussten nicht, dass Mr. Fisher einen Sohn hatte.« Die Verwaltungschefin schaute auf ihre Hände und schien sie mit merkwürdiger Intensität zu mustern. Schließlich sagte sie: »Ihr Vater ist verstorben. Vor zwei Wochen. Er hatte einen zweiten, sehr heftigen Schlaganfall. Hat Ihre Familie Sie denn nicht informiert?«
Der Raum schien zu schwanken und sich gefährlich auf eine Seite zu neigen, wie ein Boot, das von einer heimtückischen Welle getroffen wird. Es herrschte Stille, bis Justin irgendwann seine eigene Stimme hörte
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