Nur ein Gerücht
ausblenden können.
Wie in Trance holte ich am Morgen den Futterwagen aus der Kammer und begann mit dem Morgenprogramm. Ich musste auf so Mitleid erregende Weise durch die Stallgasse geschlichen sein, dass Heide mir einen Becher Kaffee in die Hand drückte und mich ins Büro schickte.
»Werd erst einmal wach«, sagte sie barsch. »Ich mache hier solange weiter.«
Das Innere meines Kopfes fühlte sich wie in Nebel getauchte Watte an. Vorsichtig trank ich einen Schluck des heißen Kaffees, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre eingeschlafen. Aber das Klingeln des Telefons ließ mich aufschrecken. Kaum hatte ich mich gemeldet, redete am anderen Ende Karen mit einer Intensität auf mich ein, die ich gerade an diesem Morgen nur sehr schwer ertragen konnte.
»Ich werde gleich die Polizei anrufen und denen sagen, dass sie Nadines Adresse von dir erfahren können. Du kannst froh sein, dass ich nur gegen dieses Miststück vorgehe. Hätte ich dich ein einziges Mal in der Nähe meiner Praxis gesehen, wärst du auch dran.«
Ohne ein Wort unterbrach ich die Verbindung. Sekunden später klingelte es erneut.
»Lass mich in Ruhe, Karen!«
»Ich will nur ihre Adresse.«
Mein Atem ging so schwer, dass ich befürchtete, sie würde ihn hören. »Ich kann dir nicht helfen.«
»Du willst sie nur schützen, aber sie verdient deinen Schutz nicht.«
Das wusste ich spätestens, seitdem ich mir die Fotos angesehen hatte.
»Ich habe gestern Abend noch mit Hans, Torsten und Gundula gesprochen«, fuhr sie fort. Ihrer Stimme nach zu urteilen stand sie unter extremer Anspannung.
Als ich diese Namen hörte, hätte ich am liebsten gleich wieder aufgelegt. Ich wollte weder mit ihr etwas zu tun haben noch mit dem Rest der Bande. Ich stöhnte genervt auf.
»Damit du mal eine Vorstellung davon bekommst, was deine Freundin so alles treibt: Über Hans, dessen Restaurant bisher sehr gut gelaufen ist, kursiert inzwischen das Gerücht, er habe massive Probleme mit der Gesundheitspolizei. Die Hälfte seiner Stammgäste ist ihm untreu geworden, nachdem es hieß, er würde sein Rindfleisch auf dem Schwarzmarkt beziehen - natürlich unter Umgehung der BSE-Vorschriften.« Ihre Stimme überschlug sich. »Torsten, der als Pastor im bayerischen Wald arbeitet, ist angeblich Mitglied bei Scientology. Über ihn wird erzählt, er lasse dieser Sekte Spenden für die Kirche zukommen. Jetzt rennen ihm die Buchprüfer die Bude ein, während seine Schäfchen die Kirche meiden.« Sie sprach immer schneller. »Und Gundula, die als Ehefrau eines Landrats bislang einen untadeligen Ruf genossen hat, soll Kleptomanin sein. Sie wird mittlerweile überall schief angesehen und bekommt zu den meisten Veranstaltungen schon keine Einladung mehr. Reicht dir das jetzt, um deinen Mund aufzumachen?«
Ich versuchte, ruhig zu bleiben, es gelang mir jedoch nur nach außen hin. »Ich habe dir nichts zu sagen.«
»Sie hat Udo auf dem Gewissen«, schrie sie. »Sie ist verrückt. Du kannst nicht zulassen, dass sie noch mehr anrichtet. Du musst sie stoppen!«
»Wie stellst du dir das vor, Karen?«
»Rede mit ihr! Vielleicht hört sie auf dich ... «
Nachdem ich das Gespräch ziemlich abrupt beendet hatte, bat ich Basti, meinen Zehn-Uhr-Unterricht zu übernehmen, und machte mich auf den Weg zu Flint's Hotel.
Das Adrenalin, das während des Telefonats mit Karen in mein Blut geschossen war, hatte den Nebel in meinem Kopf vertrieben. Schlagartig war ich aufgewacht und nahm meine Umgebung überdeutlich wahr. Die Gerstenfelder, die sich entlang der Straße zogen, lagen völlig ruhig da. Es rührte sich kein Lüftchen, während in mir die widersprüchlichsten Emotionen tobten.
Ich versuchte, klar zu denken. War Nadine tatsächlich für all die Geschehnisse verantwortlich, die ihr jetzt angedichtet wurden? Welche Beweise gab es überhaupt? Es gab die Fotos.
Aber davon wussten nur Susanne und ich. Hatten wir die falschen Schlüsse daraus gezogen? War es nicht ein Fehler, von den Bildern auf alle anderen Taten zu schließen? Mein Abscheu gegenüber diesem Einbruch in meine Intimsphäre hatte mich dazu verleitet, Karen und Melanie zu glauben und Nadine für die alleinige Schuldige zu halten. Aber war sie es tatsächlich? Karen folgte ihrem Bauchgefühl. Was sagte mir meines?
Ich fand Nadine im Frühstücksraum. Irgendwie war ich froh, nicht allein mit ihr zu sein, sondern andere Menschen um uns herum zu wissen..
»Guten Morgen,
Weitere Kostenlose Bücher