Nur ein Gerücht
Pattberg gut genug, um zu wissen, dass er kein willfähriges Opfer seiner Launen war. Auch wenn ich mir wünschte, es sei ihm lediglich eine Laus über die Leber gelaufen, war ich mir sicher, dass er etwas im Schilde führte. Aber was? Darauf hatte ich immer noch keine Antwort gefunden.
Dafür war ich auf der Suche nach einem Stallburschen fündig geworden. Heide Ahrendt hatte sich einen Tag nach meinem Gespräch mit Susanne bei mir vorgestellt. Sie war mindestens einen Meter achtzig groß, hatte kurz geschorene graue Haare, unstete Augen von der gleichen Farbe und einen Teint, der vermuten ließ, dass sie der Sonne konsequent aus dem Weg ging. Sie schaute so grimmig und abweisend, dass ich zu der Überzeugung kam, sie würde mir selbst auf den zweiten Blick nicht sympathisch sein. Sie als wortkarg zu bezeichnen wäre noch untertrieben gewesen. Da unser Bewerbungsgespräch im Sande zu verlaufen drohte, versuchte ich es mit einer Bewerbungsdemonstration und ließ sie bei einem der schwierigeren Pferde die Box ausmisten. Voller Staunen beobachtete ich, wie liebevoll sie mit dem Pferd umging. Ihre Gesichtszüge entspannten sich, während sie beruhigend auf das Tier einredete. Wir wurden uns schnell einig.
Noch am selben Tag nahm sie ihre Arbeit auf. Durch den mit der Jahreszeit zunehmenden Urlauberstrom war auf dem Bungehof so viel zu tun, dass ich heilfroh war, auf Heide Ahrendt als Dritte im Bunde zählen zu können. Die Nachfrage nach begleiteten Ausritten und Reitstunden hatte deutlich angezogen.
Als Melanie Fellner vor mir stand, dachte ich deshalb auch zunächst, sie sei eine Urlauberin. Bis ich sie bei näherem Hinsehen erkannte. Bei unserer letzten Begegnung, die ein Jahr zurücklag, hatte sie mir lautstark versprochen, sie wolle nie mehr etwas mit mir zu tun haben. In der Zwischenzeit hatten sich unter ihren Augen dunkle Ringe eingegraben, die einen scharfen Kontrast zu ihrer aschfahlen Gesichtsfarbe bildeten. Sie sah aus, als habe sie nächtelang nicht geschlafen.
»Hallo, Carla«, begrüßte sie mich leise.
Es war noch früh am Morgen. Ich war gerade dabei, die Pferde in den Freilauf zu lassen, während Basti den mit einer großen Schaufel bestückten Traktor in die Stallgasse fuhr, damit er und Heide mit dem Ausmisten der Ställe beginnen konnten.
»Melanie ...«
»Kann ich dich kurz sprechen?«
Ich nickte.
Mit einer Hand hielt sie sich an der Umzäunung des Freilaufs fest, mit der anderen tastete sie unablässig die Knöpfe ihrer Bluse ab. »Mein Bruder ist tot.« Sie biss sich auf die Lippen.
»Udo?«, fragte ich überflüssigerweise. Sie hatte nur einen Bruder. Er war einer meiner Klassenkameraden gewesen, und ich hatte ihn seit meinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen.
»Kannst du bitte zu seiner Trauerfeier kommen?«
»Melanie, es tut mir Leid, aber ...«
Sie ließ mich nicht ausreden. »Bitte! Du bist es mir schuldig.«
»Ich bin dir nichts schuldig, Melanie«, sagte ich so behutsam wie möglich.
»Doch! Du hast mir etwas genommen, und jetzt hast du die Gelegenheit, es wieder gutzumachen.« Ihr Tonfall barg keinen Vorwurf, nur eine erschreckende Leere.
»Ich habe dir damals bereits gesagt, dass die Neumanns sich auf meiner Warteliste haben eintragen lassen, bevor sie ihre Pferde bei dir untergestellt haben. Es war von vornherein klar, dass sie auf den Bungehof wechseln würden, sobald hier zwei Plätze frei würden.«
»Mir war das nicht klar«, erwiderte sie müde. »Es war nie die Rede davon.« .
»Ich kann dir nur noch einmal versichern, dass ich niemanden abwerbe.«
»Und warum haben sie dann ihre Pferde aus meinem Stall genommen?«
»Weil der Bungehof von Hohwacht aus, wo sie wohnen, schneller zu erreichen ist als dein Stall in Lütjenburg.«
»Wegen der paar Kilometer? Das soll ich dir glauben?« Ihr trauriges Lächeln veränderte sich und wurde spöttisch.
»Bei den beiden spielt Zeit eine große Rolle. Und die paar Kilometer sparen ihnen Zeit.« Das hatte ich ihr alles schon vor einem Jahr erklärt, aber auch damals hatte sie die Begründung nicht akzeptieren wollen.
Sie schüttelte den Kopf, als könne sie damit ein lästiges Gefühl verscheuchen. »Das ist jetzt auch egal. Außerdem ist es nicht mehr zu ändern ... genauso wenig wie Udos Tod.« Sekundenlang sah sie zu Boden. Als sie ihren Kopf wieder hob, erkannte ich in ihrem Blick eine Verzweiflung, die an mein Mitgefühl appellierte.
»Bitte, Carla, ich flehe dich an, komm morgen zu seiner
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