Nur ein Gerücht
eingegangen war, hatte sie versucht, alles Belastende hinter sich zu lassen. Sie hatte sich längst von meinem Vater verabschiedet.
Die Bänke reichten nicht aus, so dass viele stehen mussten. Unter den Menschen, die sich an diesem Vormittag in der Kirche eingefunden hatten, entdeckte ich vereinzelte Gesichter, die mir vertraut erschienen. Wie meines waren sie zwanzig Jahre älter geworden.
Susanne und ich waren rechtzeitig gekommen, so dass wir in einer der hinteren Reihen noch zwei Plätze fanden. Ich hatte bislang nicht viele Trauergottesdienste miterlebt, aber dieser war mit Sicherheit der ergreifendste. Wäre ich von Trauer überwältigt gewesen, hätte ich das vielleicht nur am Rande wahrgenommen. Doch meine Traurigkeit war eine leise, eine, die sich in einer Ecke meines Bewusstseins niedergelassen hatte.
Ein fast beglückendes Gefühl, das ich aus diesen eineinhalb Stunden mitnahm, war jenes, dass ich mich für meinen Vater freute: über die vielen Menschen, die gekommen waren, und über die Worte, die noch einmal ein Leben auferstehen ließen, das von mitmenschlichem Engagement geprägt war.
Mein Vater hatte sich für viele Menschen eingesetzt, nicht zuletzt für sich selbst. Dass dabei seine Familie in die Brüche gegangen war, hatte er in Kauf genommen. Nach dem Zwiegespräch mit ihm war ich jedoch bereit zu glauben, dass auch er seinen Preis hatte zahlen müssen, dass er unter der Trennung von mir gelitten hatte.
Als die Kirche sich schließlich leerte, blieb Franz Lehnert in der ersten Reihe sitzen. Er hielt seinen Blick auf den Sarg gerichtet. Ich ging zu ihm und setzte mich einen Moment neben ihn. Ohne aufzusehen, nahm er meine Hand in seine und hielt sie fest. Während er lautlos weinte, spürte ich etwas von dem Frieden, den er mir prophezeit hatte. Nach einer Weile ließ er meine Hand los. Ich warf noch einen letzten Blick auf den Sarg und verließ dann leise die Kirche.
21
S usanne hatte versprochen, draußen auf mich zu warten, sie war jedoch nirgends zu entdecken. Gerade wollte ich mich auf eine Bank setzen, als ich Christian auf mich zueilen sah.
»Susanne hat mich gebeten, dich mitzunehmen. Sie konnte nicht länger warten.« Er sah mich an, als sei ich ihm fremd. »Du warst auch bei dem Trauergottesdienst?«
»Ja. Wir müssen ein paar Schritte laufen, ich habe keinen Parkplatz in der Nähe gefunden.« Ohne auf mich zu warten, setzte er sich in Bewegung.
»Magst du einen Kaffee mit mir trinken, oder musst du sofort zurück?«
Unschlüssig blieb er stehen.
»Ich kann nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen«, gab ich ihm zu verstehen. »Was hältst du vom Café im Schloss?« Seinem Nicken folgte ein knappes Okay.
Während der Fahrt dorthin sprachen wir kein Wort. Nachdem wir ohne langes Suchen einen Parkplatz gefunden hatten, gingen wir die paar Schritte hinüber zum Schloss. Das im Innenhof gelegene Café war gut besucht, hatte jedoch noch zwei freie Tische, einen davon am Rand. Zielstrebig steuerte ich darauf zu. Wir ließen uns unter dem Sonnenschirm nieder.
In der Mitte des kopfsteingepflasterten Innenhofes plätscherte ein flacher Brunnen, in dem sich mehrere Hunde abkühlten. Kaum waren sie wieder hinausgesprungen, schüttelten sie sich nach Kräften, wobei ein paar Wassertropfen auf meiner Bluse landeten. Ich wischte mit einem Lächeln darüber.
»Tiere haben bei dir Narrenfreiheit«, sagte Christian, wobei er das Wort Tiere betonte.
»Sagen wir, ich behandle sie mit Nachsicht.«
Er legte seine Stirn in Falten. »Du behandelst sie bevorzugt. Im Vergleich zu den Menschen.«
»Bist du eifersüchtig auf Oskar?«, fragte ich mit einem spöttischen Lächeln.
»Weder auf Oskar noch auf deine Mäuse.«
Die Kellnerin kam, und wir bestellten zwei Cappuccino. »Und ich bin auch nicht eifersüchtig«, fuhr er fort, kaum dass sie zum nächsten Tisch gegangen war. »Es befremdet mich nur, dass wir uns seit fünf Jahren kennen und ich bis heute nicht wusste, dass Viktor Janssen dein Vater war. Es ...«
»Susanne.. !«
»Nein, Susanne hat noch nicht einmal eine Andeutung gemacht. Wenn jemand den Mund halten kann, dann sie. Obwohl du ihr durchaus das Wasser reichen kannst.«
»Woher weißt du es dann?«
»Auch auf Kirchenbänken wird getratscht. Ich habe einem älteren Ehepaar dabei zugehört, wie es den Mann neben mir über eure Familiengeschichte aufgeklärt hat. Die beiden haben dich wiedererkannt. Du hast drei Reihen vor uns gesessen.«
»Dann bist du ja jetzt
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