Nur ein Gerücht
Feigheit. Mit vierzehn lasse ich mir das noch gefallen, aber nicht mit vierunddreißig. Du bist nicht hilflos. Im Gegenteil: Du kannst helfen. Ihm und dir.«
»Ich habe gleich Unterricht, den kann ich nicht absagen.«
»Ganz recht! Du hast gleich Unterricht, und zwar in Courage. Und wenn du den absagst, rede ich kein Wort mehr mit dir.«
»Heißt das, Viktor Janssen ist dir wichtiger als ich?«
Sie schüttelte den Kopf, als habe sie es mit einem Kind zu tun, das auch nach der fünften Erklärung einer eigentlich simplen mathematischen Aufgabe an der Lösung scheiterte. »Wenn du mir nicht wichtig wärst, würde ich mich hier ganz bestimmt nicht so aufführen. Aber dein Vater ist mir auch wichtig. Er hat mir nach meiner Haftstrafe geholfen, bei Christian den Job zu bekommen. Er hat für mich gebürgt. Das vergesse ich ihm nie.«
»Er hatte schon immer Talent, sich unlöschbar in das Gedächtnis von Menschen einzubrennen.«
»Würde ich zu Tätlichkeiten neigen, hättest du dir jetzt eine Ohrfeige gefangen.« Die Härte in ihrem Blick ließ mich glauben, was sie sagte.
Anstatt mich ins Auto zu setzen und nach Eutin zu fahren, nahm ich mir Putzzeug und ging damit zu Oskar auf die Weide. Nachdem ich ihn am Gatter festgebunden hatte, begann ich mit gleichmäßigen Bewegungen, sein Fell zu striegeln. Nichts erschien mir in diesem Moment wichtiger als diese Arbeit. Als sein Fell längst glänzte, ich jedoch unvermindert fortfuhr, versuchte er, mir auszuweichen. In der nächsten Stufe stampfte er mit einem Vorderhuf auf den Boden und schnaubte dabei kräftig. Aber erst als er den Kopf hochriss und an dem Strick zerrte, an dem er angebunden war, wurde ich gewahr, was ich da veranstaltete. Augenblicklich erlöste ich ihn. Er trabte davon und machte seinem Unmut Luft, indem er ein paar Bocksprünge einlegte.
Mir war zum Heulen zumute. Wie verloren setzte ich mich auf den Rand der Tränke.
»Wie gut, dass Sie noch nicht weg sind, Frau Bunge.« Kyra schenkte mir ein freudiges Lächeln, stieg auf die unterste Latte des Gatters und stützte sich auf der obersten mit den Unterarmen ah. Sie hielt etwas in der Hand, was ich nicht erkennen konnte.
»Hallo, Kyra«, sagte ich in dem Versuch, munter zu klingen. »Was gibt's denn?«
»Ich habe mir neulich die kleine Platine bei Ihnen im Büro abgeholt. Sie wissen schon ... die, von der ich dachte, dass meine Eltern sie verloren haben.«
»Ja?«
»Die muss jemand anderem gehören.« Sie streckte mir einen rechteckigen Papierumschlag entgegen.
Ich ging auf sie zu und nahm ihr den Umschlag aus der Hand. »Ist gut. Ich mache noch mal einen Aushang am schwarzen Brett.«
»Das brauchen Sie nicht, die Fotos sind von Ihnen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe gar keine Digitalkamera. Ich wusste bis vor kurzem ja noch nicht einmal, was eine Platine ist.«
»Sie sind aber auf jedem Foto drauf.« Jetzt schaute sie etwas verlegen. »Mein Vater meint, die hätte bestimmt ein Verehrer von Ihnen gemacht.«
Bevor ich dazu kam, etwas zu erwidern, lief sie schon wieder zurück zum Stall. Ich machte den Umschlag auf und zog die Fotos heraus. Perplex sah ich mir eines nach dem anderen an.
Kein Wunder, dass ich mich in letzter Zeit öfters beobachtet gefühlt hatte. Immerhin hatte mich hier jemand ohne mein Wissen mit der Kamera verfolgt: Ich war auf meiner Terrasse zu sehen, am Strand, auf der Weide bei Oskar, beim Training eines Pferdes im Viereck.
»Ihre Verkupplungsversuche in allen Ehren, Frau Neumann«, wetterte ich laut vor mich hin, »aber das geht eindeutig zu weit!«
Ich stellte mir vor, wie sie meine Fotos mit den entsprechenden, werbenden Worten dem interessierten Junggesellen präsentierte. Damit er sich schon vor dem Sommerfest ein Bild machen konnte. Mir schauderte bei dem Gedanken.
Wie konnte sie so etwas tun? So, wie ich sie bisher kennen gelernt hatte, war sie zwar forsch, aber sie überschritt keine Grenzen. Hier war jedoch eindeutig eine Grenze überschritten worden. Entschlossen schob ich die Fotos zurück in den Umschlag. Ich würde ein sehr ernstes Wort mit ihr reden müssen.
Es zog mich nichts zum Sterbebett meines Vaters. Im Gegensatz zu Franz Lehnert war ich nicht der Überzeugung, dass mein Besuch dazu angetan war, ihm das Sterben zu erleichtern. Wir hatten zwanzig Jahre nicht miteinander gesprochen, wir waren einander fremd. Wir hatten uns zu weit voneinander entfernt, um in einer solchen Situation die richtigen Worte zu finden.
Noch als ich den
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