Nur ein Gerücht
Klingelknopf drückte und schließlich Franz Lehnert zum Bett meines Vaters folgte, machte ich mir Gedanken um diese Worte, die ich, kaum hatte ich sie im Geist formuliert, sofort wieder verwarf. Dass ich schließlich kein einziges benötigen würde, hatte ich nicht ahnen können.
»Ihr Vater ist draußen im Garten«, hatte Franz Lehnert mich begrüßt. Als ich in sein Gesicht sah, verstand ich, was Christian mit einer bloßgelegten Seele gemeint hatte. »Er wollte gerne die Sonne spüren.«
Wir traten durch die Terrassentür nach draußen. An einer windgeschützten Stelle stand das Bett meines Vaters, am Kopfende der Infusionsständer, an einer Seite ein Korbsessel. »Gehen Sie zu ihm, Carla.« Er gab mir einen sanften Schubs. Mit zögernden Schritten folgte ich seiner Aufforderung. Vorsichtig setzte ich mich auf die Kante des Korbsessels und ließ meinen Blick zum Gesicht meines Vaters wandern. Fast hatte ich erwartet, er würde schlafen, wie bei meinem ersten Besuch. Aber seine Augen waren geöffnet. Seine Krankheit hatte seinen Körper ausgezehrt, aber diesen Augen hatte sie nicht wirklich etwas anhaben können.
Es war, als würden sie mir eine Geschichte erzählen, deren Worte ich nicht verstand. Es war, als hätte ich einen Traum, dessen Inhalt ich beim Aufwachen bereits vergessen hatte, von dem nur ein Gefühl blieb. Eine Ahnung.
Diese Augen waren körperlos. Für Minuten verschwand ihr Blick in der Ferne, um gleich darauf zurückzukehren. Ich erkannte ein Leuchten darin, das die Tränen, die aus den Augenwinkeln rannen, noch verstärkten.
Ich weiß nicht, wie lange seine Augen sprachen und meine zuhörten. Die Welt um mich herum hatte sich auf einen winzig kleinen Ausschnitt reduziert, der nichts anderem Raum ließ. Immer öfter vernebelte sich sein Blick. Dann sanken seine Lider herab, als fehle ihnen die Kraft.
Irgendwann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Von weit her kommend hob ich meinen Blick und begegnete dem von Franz Lehnert.
»Das sind unsere Freunde, Carla.« Er deutete hinter sich, wo ich mehrere Menschen erblickte, die mit Stühlen auf das Bett meines Vaters zukamen.
Sie setzten sich im Halbkreis um ihn herum. Eine der Frauen erkannte ich wieder. Sie hatte bei meinem ersten Besuch Franz Lehnert abgelöst. Die anderen hatte ich noch nie gesehen. Während mein Blick zu meinem Vater zurückkehrte, hob eine Frauenstimme zum Singen an. Es war ein sanftes Lied, das sich in die Vogelstimmen über uns mischte. Es war ein Lied, das vereiste Tränen auftaute.
Ich weinte um die Idee von einem Vater, die Vorstellung, wie es hätte sein können. Ich weinte um den Vater, dem ich nach nur vierzehn Jahren den Rücken gekehrt hatte.
Es wäre eine Lüge zu sagen, dass an seinem Totenbett die Liebe zu ihm wiederkehrte. Aber die Erinnerung an diese Liebe kehrte zurück, und mit dieser Erinnerung legte sich eine große Ruhe über mich.
Diese Ruhe ließ mich meine Hand ausstrecken und auf seine legen. Sie war kühl und schien das Leben längst aufgegeben zu haben. Bis auf das Zucken des Zeigefingers. War es eine Regung oder nur ein Reflex?
Jemand hatte die Infusionsnadel aus dem Handrücken seiner anderen Hand entfernt. Franz Lehnert hielt diese Hand an seine Wange gedrückt, während sein Blick auf dem Gesicht meines Vaters ruhte. Es wirkte losgelöst, wie das Gesicht eines Kindes, das sich einem Traumland zuwendet, in das ihm niemand folgen kann.
Die Sonne war weitergewandert und beschien jetzt die blühenden Sträucher hinter dem Bett. Als folge es der Sonne, wich das Leben aus dem Körper meines Vaters. Irgendwann war seine Hand kalt, seine Haut wächsern. Irgendwann hatte er den letzten Atemzug getan. Und erst nach einer Weile wurde mir bewusst, dass es wirklich der letzte gewesen war.
Seine Freunde saßen um ihn herum und begannen, sich gegenseitig kleine Geschichten über ihn zu erzählen. Hin und wieder lächelte jemand. Mehr noch als in diesen Geschichten entdeckte ich in den Gesichtern die zwanzig Jahre, die mir fehlten. Es war eine Momentaufnahme, eine Lücke, die sich nie schließen lassen würde.
Drei Tage später fand die Trauerfeier statt. Dorthin zu gehen musste mich niemand drängen. Ich folgte einen starken Bedürfnis. Ich hatte darüber nachgedacht, meine Mutter über den Tod ihres Ex-Mannes zu informieren, mich dann jedoch dagegen entschieden. Sie hatte lange gebraucht, um über diese Trennung hinwegzukommen. Als sie schließlich vor acht Jahren eine neue Partnerschaft
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