Nur ein Hauch von dir
hoffnungsvoll, und mein Herz setzte einen Schlag aus.
In der Bibliothek war es still bis auf ein gelegentliches Rascheln beim Umblättern der Seiten und dem Klacken der Tastaturen. Das Leben ging ganz normal weiter, während mir etwas vollkommen Seltsames und Übernatürliches passierte.
Ich versuchte, die Dinge ganz vernünftig zu betrachten. Geister gab es nicht, also war das keine überzeugende Erklärung. Jemand aus einer anderen Dimension? Das war schierer Blödsinn. Irgendein Trick? Josh nahm mich gerne mal auf den Arm, aber um das hier hinzukriegen, fehlten ihm die technischen Mittel. Eine Wahnvorstellung? Das war die einzige Möglichkeit, auch wenn das hieß, dass ich dabei war, den Verstand zu verlieren. Zumindest hatte ich dann wahnhafte Vorstellungen von extrem hoher Qualität.
Ich grinste in mich hinein, und sofort hellte sich sein Gesicht total auf; seine Miene wechselte von Sorge zu etwas, das wie Freude wirkte – und vielleicht Erleichterung. In seinen Augen tanzten goldene Pünktchen. Wie konnte meine Phantasie jemand so Umwerfendes erfinden?
Das war doch lächerlich. Ich schloss die Augen und riss mich von seinem unwiderstehlichen Anblick los. Ich durfte nicht verrückt werden.
Ich versuchte, mich zu erinnern. Das alles hatte gestern angefangen, als ich zum ersten Mal den Armreif übergestreift hatte. Ich trug ihn auch, als ich den Jungen das erste Mal gesehen hatte. Und heute hatte ich den Reif auch wieder getragen. Wie konnte dieses wunderschöne Traumbild aus einem Schmuckstück hervorgezaubert werden? Der blaue Stein des Reifs schimmerte träge im Schein der Sommersonne.
Ich suchte den Blick des Jungen. Auch er schien mit leicht gerunzelter Stirn nachdenklich auf meinen Armreif zu blicken. Dann hob er die Hand, und ich konnte wieder das entsprechende Gegenstück an seinem Handgelenk sehen. An seinem muskulösen Unterarm wirkte der Reif fast zerbrechlich. Ich tastete nach dem schweren Silberstück an meinem schmaleren Handgelenk. Wurde ich wahnsinnig, oder übte das Ding tatsächlich einen seltsamen Einfluss auf mich aus?
Ohne darüber nachzudenken, riss ich mir den Reif vom Arm. Im gleichen Augenblick flimmerte sein Gesicht verzerrt auf und war dann weg. Ich saß wieder allein an meinem Tisch. Ich drängte die Panik zurück. Was geschah da mit mir? Und was hatte der Armreif damit zu tun? Ich versuchte, ihn genauer zu betrachten, ohne ihn jedoch zu berühren. Der Reif lag im Sonnenschein vor mir auf dem Tisch, und als ich den Kopf neigte, tanzten die bunten Flecken und Pünktchen im Licht. Wunderschön, aber das war ja nicht alles. Wie konnte etwas, das so harmlos aussah, etwas so Verrücktes bewirken? Ich merkte, wie wild mein Herz schlug, und versuchte, mich etwas zu beruhigen. Doch fast sofort musste ich es wieder versuchen. Ich holte tief Luft und legte vorsichtig die Fingerspitzen auf das noch warme Metall.
Der Stein wurde dunkler, als fiele von innen ein Schatten darauf. Als ich den Stein erneut berührte, verschwand der Schatten. Ich streifte den Reif über mein Handgelenk, und sofort zog sich der Schatten wieder über den Stein, und plötzlich war der Junge wieder hinter mir, ganz deutlich spiegelte er sich im Bildschirm vor mir. In seinem Gesicht zeigte sich eine Mischung aus Verwirrung und Verzweiflung. Es war seltsam – wieso sollte
er
verzweifelt sein?
Ich streifte den Reif ab, und genauso schnell war auch sein Gesicht wieder verschwunden. Ich merkte, wie meine Hände zitterten, ich umklammerte die Tischkante und setzte mich aufrecht hin. Vielleicht sollte ich in den Physikraum gehen, wo Miss Deeley mit ihren Instrumenten aufzeichnen konnten, was hier vorging. Das alles war so absurd und zugleich so stark, dass eine Welle von Entsetzen über mir zusammenzuschlagen drohte. Ich schüttelte den Kopf. »Konzentrier dich!«, sagte ich mir streng. Ich durfte nicht durchdrehen. Hysterisch zu werden würde mich nicht weiterbringen. Es gab eindeutig keine Möglichkeit, auch nur irgendjemand anderem davon zu erzählen, nicht einmal Grace. Wie sollte ich das denn überhaupt anfangen? Das alles war so merkwürdig, ich würde selbst damit klarkommen müssen.
Als Erstes aber musste ich hier weg. Zum Glück dauerte es nicht mehr lang, bis es zum Schulschluss klingelte, und ich lief mit wirbelndem Kopf runter zu den Bussen. Den Armreif hatte ich mit dem Bleistift vom Tisch aufgehoben und sicher in meinem Rucksack verstaut. Ich hatte mich nicht getraut, ihn noch einmal zu berühren. Es
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