Nur ein Hauch von dir
diesen Gefühlsausbruch veranlasst? Ich horchte auf das Piepen. Es wirkte so friedlich und lieferte keinerlei Hinweise.
»Alex, bitte«, flehte die Frau. »Du musst weiterkämpfen. Ich glaube einfach nicht, dass du mich nicht hören kannst. Ich weiß noch, wie du als kleines Mädchen bestimmte Dinge immer gerade dann getan hast, wenn ich dir gesagt habe, du sollst es nicht machen. Eine Zeitlang konnte ich dich so dazu bringen, alles Mögliche zu tun, einfach nur weil ich sagte, das wäre verboten. Aber dann hast du meinen Trick durchschaut. Ich weiß nicht, ob du seitdem irgendwas gemacht hast, was du nicht wirklich wolltest. Ich frage mich nur, wie du in diesen Zustand geraten bist.«
Ich wartete, ob sie mir noch mehr Hinweise liefern würde, doch sie wollte auf etwas anderes hinaus. »Du hast dich in der letzten Zeit so seltsam benommen. Immer alleine unterwegs.« Kurzes Zögern. »So verschlossen. Grace hat auch keine Ahnung … Es sei denn, sie steckt irgendwie mit drin. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns das in dieser Situation verschweigen würde.« Erneut eine Unterbrechung und ein tiefer Atemzug. »Grace kommt später her. Ich dachte, dass du sie gerne sehen würdest. Die Ärzte lassen normalerweise außer der Familie niemanden hier rein, aber wir haben eine Ausnahmeerlaubnis bekommen. Ihr beide wart euch immer so nahe. Es wird schwer für sie sein, besonders, weil sie sich irgendwie die Schuld für alles zu geben scheint, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, warum.«
Ich hörte genau zu, denn es war meine einzige Chance, etwas zu erfahren, das eine Erinnerung anschubsen und mir helfen könnte, ihr mitzuteilen, dass ich immer noch hier war, immer noch kämpfte, immer noch wollte, dass … dass was? Es war weg. Der Hauch eines Gedankens war an mir vorbeigehuscht, bevor ich ihn fassen konnte. Was war es denn, wonach ich mich sehnte? Oder wer?
Die Frau redete weiter, erzählte von meiner Kindheit, an die ich mich nicht erinnerte, von einem Bruder, der mir nichts sagte, von einem Freund, der mir egal war. Oder genauer gesagt, von einem Freund, den ich nicht mochte, denn mir fiel auf, dass immer dann, wenn sie diesen Rob erwähnte, eine unbestimmte Wut in mir aufstieg. Vielleicht war das noch keine Erinnerung, aber zumindest doch schon mal etwas. Was hatte er mir angetan? Ich suchte weiter nach einer Verbindung zwischen diesem Namen und meiner Wut. Doch nichts.
Schließlich hörte ich sie seufzen und von der Bettkante aufstehen. Ich spürte, wie ihre Haare über meine Backe strichen, als sie sich niederbeugte, um mich sanft auf die Stirn zu küssen.
»Ich bin bald wieder da, Möhrchen«, murmelte sie. »Dein Dad und ich müssen noch mal mit den Ärzten reden. Aber Grace wird gleich hier sein.« Und dann, dicht an meinem Ohr. »Kämpfe weiter«, flüsterte sie. »Finde einen Weg, um mir ein Zeichen zu geben. Ich weiß, dass du noch da bist.« Sie küsste mich noch einmal, und dann war sie weg.
Wusste sie das wirklich, oder war sie nur genauso verzweifelt wie ich? Wie sollte ich bloß Kontakt zu ihr aufnehmen? Als ich ergebnislos meine nicht vorhandenen Möglichkeiten durchging, hörte ich jemanden näher kommen. Die Schritte klangen verhalten. »Alex?«, flüsterte eine Stimme, jünger als die anderen. »Deine Mum hat die Ärzte überredet, mir zehn Minuten mit dir zu geben. Eigentlich ist das nicht erlaubt, aber na ja, sie denken, dass das irgendwie helfen könnte.«
Das musste diese Grace sein, die die Frau erwähnt hatte. Offenbar war sie meine beste Freundin. »Ich bin hier, um dir zu sagen, wie schrecklich leid es mir tut. Ich kann mich nicht daran erinnern, was passiert ist, aber ich habe das Gefühl, dass es irgendwie mein Fehler war.« Sie sprach so hastig, als wäre es weniger schrecklich, je schneller sie es aussprach. »Ich hab das Päckchen genommen, und dann bin ich mit der Umweltstudiengruppe in den Park von Kew. Ich erinnere mich noch, dass ich kurz bei der Pagode war, und dann bin ich in der Notaufnahme wieder zur Besinnung gekommen. Ich hatte deinen Armreif am Handgelenk. Ich weiß doch, wie sehr du ihn liebst, und ich kann mir überhaupt nicht erklären, wie er an mein Handgelenk gekommen ist …«
Sie musste sich unterbrechen, um Luft zu holen, und ich spürte, wie sie zögerte. »Ich … ich glaube, mit diesem Armreif stimmt etwas nicht, da ist was echt komisch. Ich hab so ein … seltsames Gefühl, wenn ich ihn trage. Als würde mich jemand beobachten. Aber
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