Nur ein kleiner Sommerflirt
Verlust erkennen wir den wahren Wert der Dinge.
Zwei Tage später fahren wir zu siebt im Jeep zurück in den Moschaw . Mit Spannung fiebere ich dem Wiedersehen mit Ron entgegen. Ich will ihm vorschlagen, dass wir noch mal von vorn anfangen.
Doch als wir das Haus betreten, scheint es so, als hätte sich die gesamte Nachbarschaft dort versammelt. Alle starren gebannt auf den Fernsehbildschirm. Ich sehe meinen kleinen, lockenköpfigen Cousin Matan und Doda Yucky. Ron und Onkel Schleim kann ich nirgends entdecken.
Die Stimmung ist definitiv gedrückt.
»Was ist los?«, frage ich, da ich den Nachrichtensprecher nicht verstehe, der allem Anschein nach etwas sehr Wichtiges zu berichten hat.
Plötzlich reden alle auf Hebräisch durcheinander und erzählen Osnat, Ofra, Avi, Doo-Doo, O’dead und Moron, warum so eine Aufregung herrscht. Bloß ich verstehe mal wieder nur Bahnhof.
»Es gab einen Bombenanschlag«, erklärt Avi mir, nachdem er den anderen zugehört hat. »In Tel Aviv.«
»Wo ist mein Dad?«, frage ich panisch. »Wo ist Ron?« Ich brauche ihn gerade mehr denn je.
Avi zieht mich an sich. »Amy, alles wird gut.«
Tränen schießen mir in die Augen, und ich frage wieder, diesmal an Doda Yucky gewandt: »Wo ist er?«
Doch ich bekomme keine Antwort. Ich merke, wie mir die Galle hochkommt, und löse mich von Avi, weil ich das Gefühl habe, mich jeden Moment übergeben zu müssen.
»Dein Aba ist mit Chaim nach Tel Aviv gefahren, um ein paar Restaurants mit Fleisch zu beliefern«, sagt sie zögerlich.
»Es geht ihnen doch gut, Doda Yucky, oder?«, sage ich und weine jetzt laut, aber das ist mir egal.
Auch ihr laufen Tränen übers Gesicht. »Ich weiß es nicht. Dort herrscht das völlige Chaos. Nachdem die erste Bombe explodiert ist, sind viele Leute zu Hilfe geeilt, und dann ist eine zweite Bombe …«
»Ohmeingott«, flüstere ich.
Mag sein, dass ich Ron nicht gut kenne, aber eines weiß ich: Wenn Menschen verletzt wurden, dann ist er einer der Ersten, der an der Unglücksstelle ist. Der zweite Bombenanschlag … ich darf gar nicht daran denken.
»Wir wissen nicht, wo sie sind«, sagt Doda Yucky. »Das Handy geht nicht.«
Ich laufe in Osnats Zimmer und wühle fieberhaft in meinem Rucksack. Aus einer Jeanstasche fische ich den Davidstern, den Safta mir überlassen hat. Die Diamanten funkeln mich an, als wollten sie mir sagen, dass ich jüdisch bin wie der Rest meiner Familie. Obwohl wir viel Leid ertragen mussten, haben wir Tausende von Jahren überlebt, rufe ich mir ins Gedächtnis.
Ich gehe wieder ins Wohnzimmer zurück und bedecke mein Gesicht mit den Händen, weil ich nicht will, dass mich jemand so sieht.
Wie viele Menschen wurden heute verletzt oder sind ums Leben gekommen? Allein beim Gedanken daran wird mir übel. Ich versuche, das Bild von Ron, wie er tot auf der Straße liegt, aus meinem Kopf zu verbannen. Was ist, wenn er tot ist und ich nicht da war, um ihm beizustehen? Ich fühle mich so hilflos, so kraftlos. Als ich die Hände sinken lasse, fällt mein Blick auf Avi.
Ich brauche ihn.
Ich brauche ihn so sehr, denn ich weiß nicht, wie ich alleine klarkommen soll.
»Avi!« Ich laufe zu ihm und klammere mich an ihn. »Bitte lass mich nicht allein. Ohne dich halte ich das, glaube ich, nicht aus.«
»Ich bin ja da«, sagt er mit sanfter Stimme und streicht mir über die Haare. »Ich gehe nicht weg.«
Das ist gut. Bei einem Bombenattentat wie diesem hat er seinen Bruder verloren. Für ihn muss es so sein, als würde er das ganze Grauen noch einmal durchleben, den eigenen Verlust, den Schmerz. Wir können uns gegenseitig helfen, das hier durchzustehen.
Ich halte ihm meine Kette hin. »Legst du mir die an?«
Es ist die längste Stunde unseres Lebens. Avi und ich sitzen bei Safta in ihrem Zimmer – die Berichterstattung wollen wir lieber nicht sehen. Safta erzählt uns von ihrer Kindheit in Israel und wie sie damals ins – wie sie es nennt – »Heilige Land« kam. Sie hat Angst, das merke ich ihr an. Zwei Söhne zu verlieren, das würde sie zu Grunde richten.
Als das Telefon klingelt, springe ich auf und renne in die Küche.
Doda Yucky hat schon abgenommen und sieht mir in die Augen, während sie den Hörer ans Ohr presst.
Mein Herz rast.
»Amy«, sagt sie, und ich lehne mich an Avi, der mich stützt, während ich mich auf das Schlimmste gefasst mache. »Es ist deine Mutter.«
Meine Mutter! Hastig greife ich nach dem Hörer. »Mom!«
»Hallo, mein Schatz. In den Nachrichten haben
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