Nur ein Liebestraum am Mittelmeer
wie ein Raubtier im Käfig lief Raoul in seinem Haus umher. Allerdings waren die Gitterstäbe unsichtbar. Wenn er wollte, konnte er jederzeit nach nebenan zu Laura gehen.
Was du grundsätzlich gern tun würdest, gestand er sich widerwillig ein. Auf dem Ausflug heute hatte sie sich keine Blöße gegeben. Sie hatte sich so geschickt verhalten, dass er nicht mehr wusste, was Wahrheit oder Lüge war.
Als sie eben auf Guy zugeeilt war, hatte ihm kurzfristig der Atem gestockt. Und sein Bruder hatte sie so zärtlich umarmt, als würde sie ihm viel bedeuten oder er sie vielleicht sogar lieben. Ließ sich sein Verhalten darauf zurückführen, dass sie ihm das Leben gerettet hatte? Konnte die Antwort so einfach und zugleich so kompliziert sein?
In seiner Verzweiflung rief Raoul seinen Anwalt an, aber der hatte die Kanzlei bereits verlassen. Allerdings hätte er ihm bestimmt eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen, wenn er etwas Wichtiges über Laura herausgefunden hätte. Ich werde mich also noch ein wenig gedulden müssen .
Eine Stunde später, nachdem er geduscht und sich rasiert hatte, beschloss er, nach nebenan zu gehen und mit seinem Bruder offen zu reden. Er konnte nicht noch einen ganzen Tag abwarten.
Laura hatte gesagt, dass sie nicht zum ersten Mal in Europa war. Falls Guy schon länger ein Verhältnis mit ihr hatte, musste er ihn davon überzeugen, es schnellstens zu beenden. Chantelle würde sich nie erholen, wenn sie das Gefühl hatte, sie hätte ihren Mann an eine andere verloren.
Zweifellos war es sehr mutig von ihr gewesen, Laura auf Guys Bitte hin in der Villa willkommen zu heißen. Doch wie lange konnte seine Schwägerin den Schein wahren? Insgeheim litt sie sicher schrecklich.
Und wie lange konnte Laura unter diesem Dach bleiben, wohl wissend, dass ihre Gegenwart Chantelle entsetzliche Qual bereitete? Raoul fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Die ganze Geschichte war ein einziges Rätsel. Und immer wenn er glaubte, einen Teilstück des Puzzles gefunden zu haben und zuordnen zu können, entdeckte er, dass es irgendwie nicht passte.
Als Laura ihm vorhin erzählt hatte, sie kaufe die Blumen für Chantelle, hätte er schwören können, dass sie es aus reiner Nettigkeit tat. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er aus ihr kein bisschen schlau wurde.
Raoul verließ seine Villa und traf die Familie beim Abendessen auf der Terrasse an. Der Korb mit den Blumen stand mitten auf dem Tisch, aber von Laura fehlte jede Spur.
„Hallo, Onkel Raoul.“
„Hallo, Paul.“
Chantelle sah auf. „Möchtest du mit uns essen? Dann sage ich dem Koch Bescheid.“
„Vielen Dank, ich habe keinen Hunger.“
Guy bedeutete ihm, sich hinzusetzen. „Hatte Jean-Luc recht mit dem Lagerhaus? Denkst du, wir sollten es kaufen?“
Raoul staunte nicht schlecht über die Gelassenheit seines Bruders. „Ich möchte es mir ein paar Tage überlegen.“
Guy nickte. „Danke, dass du Laura heute mitgenommen hast. Als ich ihr erzählte, wie ungern du den Fremdenführer spielst, erklärte sie, sie sei dir doppelt dankbar für die Art und Weise, wie du dich engagiert habest.“
Wenn sich das nicht nach einem wortgetreuen Zitat anhörte. Allem Anschein nach hat Laura meinem Bruder anvertraut, dass ich ihm ins Gehege gekommen bin, dachte Raoul. Am besten wartete er nun erst einmal ab, wie Guy reagierte, wenn sie beide allein waren.
Sollte er ihn mit seiner Aktion zur Vernunft gebracht haben, war es den Einsatz wert gewesen. Selbst wenn ihn ab jetzt die Erinnerung an ihren weichen, sinnlichen Mund verfolgen würde.
Chantelle trank ihren Tee aus. „Laura meinte, dass sie euren Ausflug nach Tourettes nie vergessen würde. Sie liebt die Natur, wie man an den herrlichen Blumen sieht, die sie mir geschenkt hat.“
Raoul musste an ihre Unterhaltung über Manon denken und ballte die Hand in seiner Hosentasche zur Faust. Hatte Laura etwa Chantelles Anerkennung gewonnen? Oder spielte seine Schwägerin ihnen allen etwas vor?
Er blickte in die Runde. Während Paul sein Abendessen genoss, saß Guy daneben und ließ sich nicht das Geringste anmerken. Vermutlich wusste Chantelle schon lange von seiner Affäre. Und dass Laura dem vermeintlichen Familienidyll fernblieb, war nicht verwunderlich.
„Ich hüpfe mal kurz in den Pool“, sagte Raoul und stand auf.
Vielleicht folgte sein Bruder ihm und forderte eine Erklärung. Wenn nicht jetzt, dann zu einem späteren Zeitpunkt. Und irgendwann musste auch Laura auf der Bildfläche
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